Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo
Autoren: Rick Yancey
Vom Netzwerk:
Rettung zu spät käme – und hatte mit der gleichermaßen unerschütterlichen Überzeugung geendet, dass er ihn retten würde. Dass das Vertrauen des Doktors durch mich erschüttert worden war, der letzten Seele auf Erden, die ihm in irgendeiner Weise noch verbunden war, schien über sein Begriffsvermögen hinauszugehen.
    Daher geschah es mit keinem geringen Maß an Mut, dass ich den Entschluss fasste, die Mauer zu durchbrechen, die er zwischen uns errichtet hatte.
    »Dr. Warthrop, Sir?«
    Er holte tief Atem. Er schloss die Augen. »Ja, Will Henry, was gibt es?«
    »Woher – Entschuldigung, Sir, aber ich habe mich gefragt –, woher wussten Sie, dass Sie im Monstrumarium nach mir suchen mussten?«
    »Was denkst du denn?«
    »Jemand muss uns gesehen haben?«
    Er schüttelte den Kopf; seine Augen blieben geschlossen. »Versuch es noch einmal.«
    »Dr. Dobrogeanu – er ist uns dorthin gefolgt?«
    »Nein. Er kehrte auf der Stelle zu von Helrung zurück, nachdem er gemerkt hatte, dass du verschwunden warst.«
    »Dann müssen Sie geraten haben«, folgerte ich. Es war die einzige Erklärung.
    »Nein, ich habe nicht geraten. Ich habe die Lehre aus dem Massaker im Chanler-Haus angewendet. Was war das für eine Lehre, Will Henry?«
    Obwohl ich mir alle Mühe gab, fiel mir nichts Lehrreiches an jenem schrecklichen Schauplatz ein, außer dem ekelhaft makabren Humorversuch, der auf die Schlafzimmertür geschmiert worden war: Das Leben ist .
    »John selbst hat mir verraten, wo ich dich finden kann«, erklärte der Monstrumologe. »Genau wie er versucht hat, mir zu sagen, wo ich Muriel finden kann. Nachdem Dobrogeanu uns die Neuigkeiten überbracht hatte, war mir sofort klar, wo er dich hingebracht hatte. Weißt du nicht mehr, was er gesagt hat? ›Er wird dich im Bestienbunker ausstellen, wo all ihr ekelhaften Wesen hingehört.‹« Er öffnete die Augen und spähte, indem er den Kopf ein bisschen hob, übers Geländer. »Hm. Sie lassen sich Zeit. Ich frage mich, ob das gut oder schlecht ist.« Er legte sich wieder hin. »Sie haben übrigens das Nováková-Mädchen gefunden, auf dem Grund des Schlamms, nachdem sie den Keller trockengelegt hatten.«
    Ich wusste, dass sie nicht das einzige Opfer bliebe, das man in diesem Keller finden würde. Er bemerkte meine gequälte Miene und sagte: »Es gab nichts, was du hättest tun können, Will Henry.«
    Und ich antwortete: »Das ist das, was ich getan habe, Sir. Nichts.«
    »Deine Schuldgefühle dienen keinem Zweck. Werden sie das Kind wieder zum Leben erwecken oder die Vergangenheit ändern? Du hast genau das gemacht, was ich gemacht hätte – was jeder unter den Umständen gemacht hätte. Nehmen wir einmal an, du hättest das Kind aufgehoben und wärst gegangen. Wie viele weitere Opfer wären vielleicht in dieser Nacht umgekommen wegen deines deplatzierten Altruismus? Es gibt im Leben schwierige Entscheidungen zu treffen, Will Henry, und die Monstrumologie hat mehr als ihren gerechten Anteil daran.«
    Er wartete auf eine Antwort von mir. Er wusste, dass ich ihm zustimmen würde; ich stimmte ihm immer zu. Wenn das Haus in Flammen stünde und ich dir sagte, du sollst Benzin darauf schütten, um das Feuer zu löschen, dann würdest du schreien: ›Ja, Sir! Ja, Sir!‹ und uns beide ins Jenseits pusten.
    »Ich hätte es retten sollen«, sagte ich.
    »Es retten? Es retten wovor? Du hattest zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung, dass John in diesem Gebäude war.«
    »Ich hätte es retten sollen«, wiederholte ich.
    »Na schön. Nehmen wir einmal für einen Moment an, du hättest es gerettet. Und nehmen wir an, es wäre dir geglückt herauszufinden, zu wem es gehörte. Und nun darfst du annehmen, dass es seinen ersten Geburtstag dennoch nicht erlebt hätte, denn so stehen die Chancen, Will Henry; dies ist die grausame Wahrheit des Gettos. Du hättest es vor einem Monster errettet, um es einem anderen, nicht weniger mörderischen auszuliefern.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Ich hätte es retten sollen«, sagte ich ein drittes Mal.
    Er bekam einen roten Kopf; seine dunklen Augen blitzten. Vielleicht war er nicht vorbereitet auf meine kriecherische Reaktion auf seine Forderung, ich solle weniger kriecherisch werden!
    » Warum ?«, wollte er wissen.
    »Weil ich es gekonnt hätte«, entgegnete ich.
    Sie wurden Seite an Seite zur letzten Ruhe gebettet, die beiden geliebten Personen meines Herrn, in der chanlerschen Familiengruft, denn auch der Vater des ungeratensten Sohns ist immer noch ein Vater.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher