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Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo
Autoren: Rick Yancey
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Zeitungen ist.«
    »Dann möchten Sie also, dass diese erlauchte Versammlung die beeideten Aussagen von dreiundsiebzig Zeugen nicht anerkennt beruhend auf … was? Was, Dr. Warthrop? Beruhend auf der Tatsache, dass, weil Sie sagen, es kann nicht so sein, es nicht so sein kann? Ist das nicht genau das, was Sie mir vorwerfen? Von nicht erwiesenen Tatsachen auszugehen?«
    »Ich werfe Ihnen nicht vor, von nicht erwiesenen Tatsachen auszugehen. Ich werfe Ihnen vor, die Tatsachen frei zu erfinden.«
    »Na schön!«, rief von Helrung und warf die Akten mit einer dramatischen Geste hin. »Dann verraten Sie mir – erleuchten Sie uns alle, guter Doktor –, was hat Pierre Larose getötet? Was hat ihn gehäutet und von seinem Herz gefressen und ihn auf einem Pfahl aufgespießt? Was hat Sergeant Jonathan Hawk vierzig Fuß in den Himmel geschleppt und ihn auf dem höchsten Baum gekreuzigt? Was hat unser geliebter Kollege in der Einsamkeit gefunden, das ihm das angetan hat?« Er zeigte anklagend auf den Autopsietisch, wo die Leiche unverdeckt unter dem grellen Schein der Bühnenlampen lag.
    »Ich glaube nicht«, sagte der Doktor bedächtig, »dass er überhaupt etwas gefunden hat.« Er erhob sich von seinem Stuhl. Ichbekämpfte den Instinkt, an seine Seite zu eilen. Er schien am Rande des Zusammenbruchs zu stehen.
    »Ich weiß nicht, wer Pierre Larose getötet hat. Vielleicht waren es die Eingeborenen in einem Akt abergläubischer Furcht. Vielleicht war es ein verärgerter Gläubiger oder jemand, bei dem er Spielschulden hatte. Vielleicht war John es selbst, nachdem er dem Dämon unterlegen war, der von ihm Besitz ergriffen hatte. Ich bezweifle, dass es irgendjemand jemals wissen wird. Was Hawk betrifft … offensichtlich ein Fall von Buschfieber. Ich frage Sie, was ist die bessere Erklärung – dass etwas ihn von oben hat fallen lassen oder dass er auf diesen Baum geklettert ist? Ein Junge, halb so groß wie er, ist hochgeklettert. Wieso soll er es nicht gekonnt haben?«
    Er drehte den Kopf zum Leichnam seines Freundes hin und wandte sich dann wieder ab.
    »Und John … Ich nehme an, das ist der springende Punkt des Ganzen, nicht wahr? Was widerfuhr John Chanler? Sie möchten ein Monster aus ihm machen, und ich vermute, man könnte ihn so nennen. Ich leugne seine Verbrechen nicht. Ich sage nicht, dass er nicht entsetzlich an etwas litt, von dem ich wenig verstehe. Der Schlüssel ist … Tja, ich bin wohl der einzige Gärtner auf der Erde, der nichts von den Samen weiß, die er pflanzt. Aber was ich sagen will« – und hier wurde die Stimme des Monstrumologen hart – »ich will sagen, dass er sein Möglichstes getan hat, um all unseren Erwartungen gerecht zu werden. Du wolltest, dass er ein Monster ist, und er tat dir den Gefallen, oder nicht, Meister Abram? Er hat deine kühnsten Träume übertroffen. Wir streben tatsächlich danach, das zu werden, was andere in uns sehen, nicht wahr?
    Ich habe versucht, ihn zu retten. Von Anfang an war ich bereit, mein Leben für ihn hinzugeben, denn es gibt keine größere Liebe als diese …«
    Übermannt hielt er inne. Ich stand auf, um zu ihm zu gehen. Er winkte mich zurück.
    »Er hat mich gefragt: ›Was haben wir gegeben?‹ Ich behauptenicht, alles zu wissen, was er damit meinte, aber so viel weiß ich: Ich werde es nicht dabei belassen. Ich werde nicht zulassen, dass es dabei bleibt. Du wirst seinen Leichnam nicht schänden, wie du sein Andenken geschändet hast. Das ist es, was ich ihm geben kann. Das ist alles, was ich ihm geben kann. Ich werde meinen Freund beerdigen, und ich schwöre, dass ich den Mann töten werde, der versucht, mich davon abzuhalten.«
    Er richtete die Augen auf die Menge, und die Menge konnte sein gerechtes Funkeln nicht erwidern.
    »Nehmen Sie jetzt Ihre Abstimmung vor. Ich werde keine weiteren Fragen mehr beantworten.«
    Der Doktor und ich kehrten in unsere private Loge zurück, als die Abstimmung vorgenommen wurde. Auf von Helrungs Ersuchen hin würde sie geheim stattfinden. Warthrop lag auf dem Diwan, die Arme vor der Brust verschränkt, den Kopf auf der Armlehne. Er starrte die reich verzierte Zimmerdecke an und weigerte sich, die Stimmabgabe zu verfolgen.
    Das Schweigen zwischen uns war keins der angenehmen Sorte. Seit dem Tode Chanlers hatte er kaum mit mir geredet. Wenn er mich ansah, stellte ich fest, dass er eher verwirrt als wütend war. Die Angelegenheit hatte mit seiner festen Überzeugung ihren Anfang genommen, dass für seinen Freund jede
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