Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo
Autoren: Rick Yancey
Vom Netzwerk:
Er hatte seinen Freund aus der Wildnis herausgetragen; unter unvorstellbaren Leiden und Opfern hatte er John Chanler heimgetragen. Wie konnte er nun dieses Leben beenden, für dessen Rettung er so viel gegeben hatte? Würde nicht das Betätigen dieses Abzugs alles negieren, woran der Doktor glaubte? Ja, in der Tat, würde es nicht von Helrung recht geben im fundamentalsten Sinn – recht geben, dass die Liebe selbst die Bestie ist, die die ganze Menschheit verschlingt?
    Das geschwärzte Wrack, das John Chanler war, schlug dem Doktor den Revolver mit solcher Geschwindigkeit aus der Hand, dass die Handlung mir ein Nachbild auf die Augen malte. Die Bestie zog ihn dicht an sich heran, damit er deutlich sehen konnte, was sowohl Muriel als auch John ihr gegeben hatten und was sie ihnen als Gegenleistung gegeben hatte. Dies ist das Gesicht der Liebe.
    Dann drückte sie ihre Münder auf seinen.
    Im nächsten Moment war ich über ihr, das versilberte Messer in der Hand. Ich stieß ihr die Klinge bis ans Heft in den dünnen Hals. Die Bestie schüttelte mich so mühelos von ihrem Rücken ab, wie ein Mensch sich eine Fussel vom Mantel schnippt. Unter ihr schlug der Doktor um sich; eine schwarze Klaue lag wie eine Klammer über seiner Nase und seinen Augen, während sie den Mund fest auf den Mund des Doktors gepresst hatte. Die Bestie erstickte ihn mit ihrem Kuss.
    Wieder sprang ich auf den Rücken des Dings, während von Helrungs Worte mir in den Ohren klangen: Silber – ob als Kugel oder Messer – ins Herz. Nur ins Herz!
    In einer grotesken Parodie ihrer früheren Umklammerung meiner selbst schlang ich die Arme um sie und stieß ihr die Silberklinge wieder und wieder in die wogende Brust.
    Ihre skelettartige Gestalt zuckte; hinter Muriels Lippen öffnete sich der blutige Mund zu einem animalischen Schmerzensschrei. Die Bestie erhob sich, warf mich ab und fiel dann hin. Sie erhob sich wieder, brach zusammen und rollte sich zu einem wimmernden fetalen Ball zusammen.
    Während Schmerz und Sehnsucht in ihnen aufstiegen, suchten die gelben Augen meinen Blick. Ich hob die Klinge hoch über meinen Kopf, und unter der menschlichen Maske erinnerte sich etwas in der Bestie, und John Chanler lächelte. Sein Herz bäumte sich auf, um meinem orgastischen Stoß zu begegnen.
    »Gottverdammt!« Die Stimme des Doktors dröhnte mir in den Ohren. »Gottverdammt, warum ?«
    Er stieß mich beiseite und nahm seinen Angreifer in den Schoß, und jetzt wirkte das Ding jämmerlich klein und zerbrechlich, nicht wie das riesige Gespenst, das es nur einen Moment zuvor gewesen war. Mit einer Hand drückte der Monstrumologe die Wunde zusammen; das Blut, schwarz wie Teer im schwachen Licht, pulsierte mit jedem Schlag des Herzes des Sterbenden zwischen seinen Fingern. Dann schälte Warthrop sanft das obenauf liegende Gesicht derjenigen ab, die sie beidegeliebt hatten, und starrte in die leeren Augen dessen, von dem er geglaubt hatte, er hätte ihn aus der Einsamkeit herausgeholt. Aber er hatte ihn nicht herausgeholt. Die Einsamkeit war in ihm.
    »Nein, nein, nein!«, protestierte Pellinore Warthrop, der ohnmächtige Schrei des Menschen.

NEUNUNDZWANZIG
    »Die Gabe hätte eigentlich ich geben sollen«

    Am letzten Freitag des Kolloquiums erhob sich mein Herr von seinem Stuhl, im Saal wurde es still, und einhundert seiner Kollegen beugten sich in ihren Sitzen nach vorn und warteten mit angehaltenem Atem darauf, seine Erwiderung an von Helrung zu hören, von der die auf Messers Schneide stehende Zukunft ihrer Disziplin abhing. Sollte er versagen, wäre die Monstrumologie dem Untergang geweiht. Niemals würde man sie als legitime Forschungsmethode anerkennen; ihre Ausübenden würden fortan und auf immer als Lachnummern wahrgenommen werden, als exzentrische Pseudowissenschaftler an den Grenzbereichen der »echten« Wissenschaft.
    Von Helrung hatte einen unwiderstehlichen Fall präsentiert, indem er seine ursprüngliche Abhandlung dahingehend überarbeitet hatte, dass sein Kronzeuge darin vorkam, der »unentbehrliche Beweis«, wie er es nannte – ein gewisser William James Henry, Sonderassistent des obersten Wortführers der Gegenseite!
    Ich hatte erwartet, dass die Eingabe des Doktors so unbeholfen sein würde, wie seine Proben es gewesen waren, verdreht in ihrer Logik, widersprüchlich in ihren Argumenten – und ich wurde nicht enttäuscht. Es tat weh zuzuhören, aber jedermann hörte höflich zu. Das wahre Schauspiel sollte erst folgen, die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher