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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift
Autoren: Pierre Magnan
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in den Außenbriefkasten zu werfen, und ging leichten Herzens nach Hause.
    Wie gewöhnlich lag Félicie Battarel auf der Lauer und war mit einem Sprung bei dem Korb, in den der Brief gefallen war. Der einzige angenehme Zeitvertreib, den ihr Amt mit sich brachte, bestand darin, die Geheimnisse der Kunden durch sorgfältige Prüfung aller der Post anvertrauten Sendungen auszukundschaften. Dies umso mehr, als der Posteingang in Barles spärlich und die Abende lang waren, sodass man jeden einzelnen Fall gründlich überdenken konnte.
    Mit dem Stempel in der erhobenen Hand zerbrach sich diese schätzenswerte Postbeamtin, die es auf achtzig Kilo bei einer Größe von ein Meter vierundfünfzig brachte, lange den Kopf darüber, was denn dieser Pencenat mit seinen kaum vorzeigbaren Fingernägeln jener Mademoiselle Véronique Champourcieux, 4, rue des Carmes in Digne, wohl mitzuteilen haben konnte. Wo hatte der sich diese steile, aristokratische Schrift abgeschaut? Und wusste Prudence überhaupt etwas von diesem Briefwechsel, der nach Félicies Überzeugung nur geheim sein konnte?
    Wenn sich ein Fräulein von der Post den Kopf zerbricht, dann eröffnen sich großartige Aussichten hinsichtlich des dramatischen Potenzials eines noch so geringfügigen Ereignisses. Während der knapp zwei Minuten, in denen sie den Brief mit ihren dicklichen Fingern betastete, war ihr eine ganze comédie humaine voller verwickelter Intrigen durch den Kopf gegangen. Die Fortsetzung sparte sie sich für die kommenden langen Winternächte auf. Sie stieß einen kleinen Seufzer aus. Eines blieb ihr leider versagt, den Brief zu öffnen. So wollte sie ihn wenigstens so lange wie möglich für sich behalten. Deutlich sichtbar lehnte er an dem grünen Schirm ihrer Schreibtischlampe, die nur noch dekorativen Zwecken diente.
    Am Abend, kurz bevor der Grand Magne, der Busfahrer, vorbeikam, um die Post mitzunehmen, hielt sie ihn gegen die Hängelampe, aber der Umschlag zeigte sich hartnäckig undurchsichtig. Es blieb nichts anderes übrig, als ihn in den großen Jutesack zu werfen, mit all den übrigen Sendungen, die bedauerlicherweise keinerlei Anreiz zur Verletzung des Postgeheimnisses boten. Ihre betrübliche Banalität war auf den ersten Blick zu erkennen.
    Aber letztlich war Félicie gar nicht auf diesen Umschlag angewiesen. Er hatte sich tief in ihr Gedächtnis eingegraben. Er war weder von handelsüblichem, noch von ausgefallenem Format, weder lila, blau oder gar rosa, was Anlass zu allen möglichen Spekulationen geboten hätte, sondern von einheitlichem, strengem Weiß, bedrohlich, wie der Marmor eines Grabmals. Nur die elegante Schrift verlieh, tiefschwarz und Unheil verkündend, all diesem Weiß einen Hauch von Trauer. Die Feder, die diese Schriftzüge hinterlassen hatte, war in Tusche getaucht worden; in solchen Dingen kannte Félicie sich aus. Sie ging sogar so weit, eine kleine Unebenheit glatt zu streichen, die eine wütende Faust beim Zukleben des Briefs hinterlassen haben musste.
    Konnte man der spekulativen Einbildungskraft noch weiter Raum geben? Unsere Postangestellte war jedenfalls bereit, darauf zu schwören, dass weder Schrift noch Tinte und Umschlag aus dem Hause Pencenat stammen konnten.
    Bis zum Einschlafen konzentrierte sich Félicies Phantasie an diesem Abend allein auf diesen ganz besonderen Brief, und auf ihre reiche, ausschweifende und blühende Phantasie war sie stolz. Doch musste sie sich später, sehr viel später, als sie alles erfahren hatte, eingestehen, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als sich eine einsame Postbeamtin ausdenken kann, so sehr sie sich den Kopf zerbrechen mag in dieser gottverlassenen Gegend, verloren in den Schluchten des Bès zwischen Barles und Verdaches.

2
    AM Abend heulte der Mistral in den clues, den tiefen, durch Brüche der Gesteinsschichten entstandenen Klüften. Nur selten gelangt er so weit. Aber wenn er sich einmal bis dort hineinwagt, hört man ihn das Jagdhorn durch die Schlucht des Bès blasen, die viel zu eng für seine Statur ist und der er seit jeher mit wütenden Böen Gewalt antun möchte.
    Emile Pencenat überquerte den düsteren Schulhof, wo im Dämmerlicht der Laternen die Staubwirbel ein dumpfes Geräusch machten. Sie verfolgten magere, in welke Blätter gehüllte Derwische, die in ihrem wilden Treiben an die dicken Mauern stießen und vergeblich einen Ausgang suchten.
    Pencenat öffnete das quietschende Tor. Er ging unter der zerfetzten Trikolore hindurch, die im
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