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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift
Autoren: Pierre Magnan
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Wind schlug. Er hob den Kopf. Dort oben, über den hohen Fenstern des Klassenzimmers, brannte Licht in der ersten Etage. Dürre Schatten gestikulierten vor einer Hängelampe.
    Die Schule war einer dieser Zweckbauten aus der Zeit Jules Ferrys, des berühmten Erziehungsministers, der die allgemeine Schulpflicht eingeführt hatte. Kahle, nüchterne Wände und Rollläden vor den Fenstern. Eine jener Schulen, die damals als hässlich galten, die sich jedoch heute, durch die Nostalgie, die sie ausstrahlen, mit einer pathetischen Schönheit schmücken.
    Pencenat durchquerte den Korridor, wo an den Kleiderhaken einige vergessene Schals hingen. Er ging die Treppe hoch. Die Tür am Ende des Ganges stand halb offen. Er zögerte. Seitdem er diesen seltsamen Brief eingeworfen, seitdem er schweigend seine Suppe mit Prudence gegessen hatte, die ihm gegenübergesessen und ihn intensiv beobachtet hatte, war er von einer unbändigen Lust ergriffen, seine Geschichte zu erzählen. Sein Kopf war voll von: »Stell dir vor …«, »Stellt euch vor …«. Vorhin, vor Prudence, hatte er Luft geholt und sogar den Mund geöffnet, um ihn dann schnell vor Worten, die er später bereuen würde, zu verschließen. So sehr verfolgte ihn sein merkwürdiges Abenteuer. Dennoch gefiel ihm die Vorstellung, seinen Mitspielern vom Mittwochabend davon zu erzählen, überhaupt nicht. Das waren alles gebildete Leute, die ihre Lippen zusammenkneifen, ihn verstohlen anstarren und ihm durch ihr missbilligendes Schweigen deutlich zu verstehen geben würden, für wie unwichtig sie ihn hielten und dass sie ihm jeden gesunden Menschenverstand absprachen.
    »Was hätte ich denn tun sollen? Was hätten Sie denn an meiner Stelle getan?«
    Keiner von denen, die heute Abend hier waren, hätte auf diese beiden Fragen geantwortet.
    In tiefes Nachdenken versunken, lehnte sich Pencenat unwillkürlich gegen die einen Spalt offen stehende Tür. So gelangte er in eine altmodische Küche, in einen geräumigen, reinlichen Raum, in dem ein runder, mit einem Wachstuch bedeckter Tisch sowie ein Holzofen standen. Vertraut und gleichzeitig irgendwie im Weg stehend wie ein Wesen aus Fleisch und Blut thronte der Ofen im Raum. Man konnte fühlen, dass er der wichtigste Bestandteil dieser Räumlichkeit war und dass ohne ihn hier nichts geschehen könnte. Die mit Schleifpapier blank geputzte gusseiserne Platte glänzte wie ein dunkler Spiegel.
    »Mensch, Emile! Was zum Teufel haben Sie denn gemacht? Es ist schon nach acht! Wir haben schon auf Sie gewartet!«
    Monsieur Régulus trug ein bis zum Kragen zugeknöpftes Alpakajackett und weiche, breite Schuhe wie die eines Geistlichen, die jedermann auffallen mussten. Er war das letzte Relikt einer ausgestorbenen Rasse von Volksschullehrern. Jeden Morgen legte er sich feierlich seine Lüstermanschetten an und blickte wie ein Olympier auf seine zwölfköpfige Klasse.
    Durch den hohen Haaransatz wirkte sein Schädel leicht birnenförmig. Seine schrägen, an Haferähren erinnernden Augenbrauen und der Kneifer, den er nach Ansicht seiner Schüler gar nicht benötigte, verliehen ihm diesen zornigen Ausdruck, mit dem er sich Autorität zu verschaffen hoffte. Er trieb seinen nostalgischen Laizismus so weit, dass er jeden Morgen selbst den Ofen des Klassenzimmers anzündete, wobei er bedauerte, dass es nur ein Ölofen war.
    Diese Steifheit und Strenge seines Junggesellenlebens, die keine Seelenregung erkennen ließ, diente Monsieur Régulus dazu, seine Passion zu verbergen.
    Niemand wusste, worum es sich dabei handelte. Der einzig sichtbare Teil seines Geheimnisses war ein kleiner Schlüssel, der an seiner Uhrkette hing, die quer über eine altmodische Weste verlief. Keine Stunde des Tages verging, in der er nicht an diesem Schlüssel herumfingerte. Manchmal, so zum Beispiel, wenn er weit ausholende Bewegungen machte, um die Tafel zu wischen, glitt der Schlüssel bis ans Ende der Kette. Dann machten sich seine Hände plötzlich erschreckt an der Weste zu schaffen und ein Aufblitzen der Verzweiflung ließ seinen wütenden Blick menschlicher erscheinen.
    Aus Angst, man könne ihn zum Reden bringen, mied er offene, heitere Menschen, die ihn durch ihre Liebenswürdigkeit veranlassen könnten, etwas zu erzählen oder sich ihnen anzuvertrauen.
    Da man jedoch nicht in absoluter Einsamkeit leben kann – vor allem nicht in Barles, wenn die Schüler auf der Straße lärmend in alle Richtungen verschwunden sind und plötzlich das Geräusch des Bès wieder allein
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