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Der Minnesaenger

Titel: Der Minnesaenger
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auf die Beine zu kommen. Der Anblick rührte Dankwart so stark, dass er den zuckenden Kopf umfing und beruhigend zu dem Rappen sprach wie zu einem Wesen mit einer Seele. Schon wollte er den Knauf ergreifen, um das Schwert in der Wunde zu drehen - da lief ein Ruck durch den mächtigen Leib und die Augen brachen.
    Nicht zum ersten Mal begriff Dankwart, dass es Unheil brachte, wenn er heidnischen Zeichen folgte. In dieser Nacht, in einem Zustand zwischen Traum und Wachsein, hatte er die Warnungen seines Verstandes ignoriert. Seine
Eingebung hatte dem Hengst das Leben gekostet. Auf ihn war stets mehr Verlass gewesen als auf die Menschen. Er konnte nur hoffen, dass der Rappe nicht umsonst gestorben war.
    Er beugte sich zu dem Tier hinab und flüsterte ihm Worte des Abschieds ins Ohr, dann schulterte er den Holzsattel und griff nach dem Zaumzeug. Normalerweise hätte er eine Grube ausgehoben, damit die Bären, Wölfe und Füchse die Gebeine nicht in alle Himmelsrichtungen verstreuten, aber die Sorge in ihm war stärker.
    Als Jungmann war er ein geschickter Waldläufer gewesen und hatte dem Herzog von Zähringen in vielen Schlachten als Meldegänger gedient. Manche Männer setzten im Alter Fett an und wurden behäbig, aber er hatte sich seine sehnige Konstitution bewahrt. Er atmete tief durch und lief los. Gleichmäßig steigerte er die Geschwindigkeit, bis seine Füße einen geschmeidigen Rhythmus gefunden hatten.
    Als er den Wald hinter sich ließ, war sein Rücken klatschnass und der Schweiß tropfte ihm von der Nase. Vor ihm lag das Hexental mit dem plätschernden Bach, den weitläufigen Wiesen, Obstbäumen und Rodungshöfen. Auf einer Anhöhe erhob sich eine Kapelle, die der Bischof von Freiburg Johannes dem Täufer geweiht hatte. Dankwart hatte keine Augen für seine Heimat. Er konzentrierte sich ganz auf das vor ihm liegende Gelände mit seinen Unebenheiten und Steinen. Wenn er sich den Knöchel verstauchte, würde er vielleicht zu spät kommen, und er musste endlich wissen, was mit Agnes los war.
    Während er durch das kniehohe Flussgras hetzte, schlugen die Disteln gegen seine Schienbeine. Kurz schaute er
zu seinem Heim hinauf. Auf einer vorspringenden Bergnase, auf halber Höhe des Schönebergs hatten er und sein Vater einst ein Plateau gerodet und ein befestigtes Bruchsteinhaus errichtet. Aus Treue zu ihrem Dienstherrn und aus Stolz auf die Arbeit ihrer Hände nannten sie es Adlerburg.
    Ein Palisadenwall wehrte Angreifer ab. Ein gewundener Pfad, versteckt hinter Birken, Rotbuchen und Ebereschen, führte zum Tor hinauf. Das alles verlor seinen Wert, wenn seiner Ehefrau etwas zustieß. Sie allein erfüllte das Anwesen mit Leben. Dankwart ignorierte das Stechen in seinen Seiten, die brennenden Schenkel und die blutenden Füße. Schritt um Schritt kämpfte er sich die Steigung hinauf und betete inbrünstig: Mein Gott, lass sie wohlauf sein. Ich bitte nur um das, Herr! Lass sie wohlauf sein!

4.
    Agnes’ Umhang und die Matratze waren getränkt von Fruchtwasser und Blut. Sie stützte sich auf die Ellenbogen und beobachtete die Hebamme. Mit hohler Hand schöpfte die Alte Kräuterwasser aus dem Holzzuber, um es über Gesicht und Körper des Neugeborenen zu gießen. Dabei murmelte sie Segenswünsche des alten Volkes.
    Agnes sank zurück und starrte an die rußige Decke. Die Panik, die sie bei der ersten Wehe ergriffen hatte, erwies sich als unbegründet, denn das kleine Wesen hatte sich nach Kräften gemüht, um auf die Welt zu kommen, so als hätte es seiner Mutter nicht allzu viele Schmerzen bereiten wollen. Der erste klagende Schrei hatte geklungen wie der eines vergessenen Zickleins.

    Agnes lächelte und erinnerte sich daran, wie sie vor Wochen einen durchreisenden Mönch bewirtet hatte. Der Geistliche hatte ihr erklärt, dass wenn der Samen des Mannes in der rechten Gebärmutterhälfte zu sprießen beginne, ein Junge, wenn er sich in der linken Hälfte einniste, ein Mädchen geboren werde. Agnes tastete ihren Leib ab. Nur wenn der Samen kräftig und die beiderseitige Liebe groß sei, hatte der Mönch gesagt, würde das Kind zu einem tugendreichen Menschen reifen. Dankwarts Samen ist stark, dachte Agnes und schloss für einen Moment die Augen.
    »Herrin!«, rief der Sohn besorgt.
    Auf dem Laubkissen drehte Agnes den Kopf zur Seite. Mechthild vom Hasgelhof hatte die Kinder vom Waldrand abgeholt. Agnes streckte die Arme nach ihnen aus, aber nur Heinrich lief auf sie zu, ergriff ihre ausgestreckte Hand und kniete auf
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