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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit
Autoren: W. Somerset Maugham
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Luke’s Hospital wurde er unter die Anstaltsärzte aufgenommen und verdiente sehr bald viel Geld. Er gab es mit vollen Händen aus. Als der Vikar die Restaurierung seiner Kirche in Angriff nahm und seinen Bruder um einen Beitrag ersuchte, wurde ihm zu seiner Überraschung eine Spende von einigen hundert Pfund angewiesen: Mr.   Carey, knauserig aus Veranlagung und sparsam aus Notwendigkeit, nahm das Geld mit gemischten Gefühlen an; er beneidete seinen Bruder, weil er imstande war, eine so beträchtliche Summe zu verschenken, freute sich im Interesse seiner Kirche und lehnte sich gleichzeitig im Inneren gegen eine solche Art von Großzügigkeit auf, die ihm unvornehm und protzig schien. Dann heiratete Henry Carey eine Patientin, ein schönes, aber gänzlich vermögensloses Mädchen, eine Waise aus guter Familie, aber ohne nähere Verwandtschaft; zur Hochzeit fand sich eine ganze Schar von vornehmen Freunden ein. Der Pastor trat seiner Schwägerin bei seinen Besuchen in London mit großer Zurückhaltung entgegen. Er fühlte sich ihr gegenüber befangen und nahm ihr in seinem Herzen ihre große Schönheit übel: Sie kleidete sich eleganter, als es der Frau eines geplagten Chirurgen zustand; und die entzückende Einrichtung ihres Hauses, die Blumen, mit denen sie sich selbst im Winter umgab, verrieten eine Verschwendungssucht, die er missbilligte. Er hörte sie von Gesellschaften sprechen, zu denen sie eingeladen war; und Gastfreundschaft anzunehmen, ohne sie zu erwidern, erklärte er seiner Gattin, als er heimkehrte, sei ein Ding der Unmöglichkeit. Er hatte Weintrauben im Esszimmer gesehen, die mindestens acht Shilling das Pfund gekostet hatten, und zum Lunch hatte man ihm Spargel vorgesetzt, zwei Monate ehe es im Pfarrgarten welchen gab. Nun war alles gekommen, wie er es vorausgesagt hatte; der Vikar empfand die Genugtuung eines Propheten, der zusah, wie Feuer und Schwefel die Stadt verzehrten, die seine Warnungen in den Wind geschlagen hatte. Der arme Philip stand beinahe mittellos da, was hatte er nun von den vornehmen Freunden seiner Mutter? Er hörte, dass der Leichtsinn seines Vaters geradezu verbrecherisch gewesen sei und es als Gnade angesehen werden musste, dass Gott seine liebe Mutter zu sich geholt hatte; sie hatte weniger Ahnung von Geld gehabt als ein Kind.
    Etwa eine Woche nach Philips Ankunft in Blackstable ereignete sich ein Vorfall, der seinem Onkel großen Ärger zu bereiten schien. Eines Morgens fand er auf dem Frühstückstisch ein kleines Paket vor, das ihm von der Wohnung der verstorbenen Mrs.   Carey nachgeschickt worden war. Es war an sie adressiert gewesen. Als der Pastor es öffnete, fand er ein Dutzend Fotografien von Mrs.   Carey. Sie zeigten nur den Kopf und die Schultern, das Haar war einfacher frisiert als gewöhnlich, tief in die Stirn gekämmt, was ihr ein ungewohntes Aussehen verlieh; das Gesicht sah mager und abgezehrt aus, aber keine Krankheit war imstande gewesen, die Schönheit dieser Züge zu verwischen. Aus den großen dunklen Augen sprach eine Traurigkeit, an die sich Philip nicht erinnern konnte. Der erste Anblick der Verstorbenen jagte Mr.   Carey einen Schreck ein, dem jedoch rasch Verblüffung folgte. Die Fotografien waren ziemlich neu, und er konnte sich nicht vorstellen, wer sie bestellt hatte.
    »Weißt du etwas von diesen Bildern, Philip?«, fragte er.
    »Ich erinnere mich, dass Mama erzählt hat, sie hätte sich fotografieren lassen«, antwortete er. »Miss Watkin schalt sie… Sie sagte: Ich möchte, dass der Junge etwas zur Erinnerung an mich hat, wenn er groß ist.«
    Mr.   Carey blickte Philip einen Augenblick lang an. Das Kind sprach mit heller Stimme. Er erinnerte sich an die Worte, aber sie bedeuteten ihm nichts.
    »Du darfst dir eine von den Fotografien mit in dein Zimmer nehmen«, sagte Mr.   Carey. »Die anderen werde ich wegräumen.«
    Ein Bild schickte er an Miss Watkin, und sie erklärte in einem Brief, wie es zu den Aufnahmen gekommen war.
    Eines Tages hatte Mrs.   Carey im Bett gelegen, aber sie hatte sich etwas kräftiger gefühlt als gewöhnlich, und der Arzt hatte sich am Morgen zuversichtlich gezeigt; Emma war mit dem Kind spazieren gegangen, und die Mädchen hielten sich unten in der Küche auf. Plötzlich war eine große Angst über Mrs.   Carey gekommen. Würde sie die Entbindung, die in vierzehn Tagen bevorstand, überleben? Ihr Sohn war neun Jahre alt. Wie konnte sie hoffen, dass er die Erinnerung an sie bewahrte? Sie konnte den Gedanken
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