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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit
Autoren: W. Somerset Maugham
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nicht ertragen, dass er aufwachsen und sie vergessen sollte, gänzlich vergessen; sie hatte ihn so leidenschaftlich geliebt, weil er schwächlich und verkrüppelt war und weil er ihr Kind war. Seit ihrer Heirat hatte sie sich nicht mehr fotografieren lassen, und das war nun zehn Jahre her. Ihr Sohn sollte wissen, wie sie zuletzt ausgesehen hatte. Dann konnte er sie nicht vergessen, nicht gänzlich vergessen. Sie wusste, wenn sie das Mädchen kommen ließe und ihr erklärte, dass sie aufstehen wollte, würde sie das Mädchen zurückhalten und schickte vielleicht sogar nach dem Arzt, und sie hatte nun nicht die Kraft, zu kämpfen oder zu bitten. Sie stand auf und begann sich anzuziehen. Sie hatte so lange auf dem Rücken gelegen, dass ihre Knie einknickten, und ihre Fußsohlen brannten so sehr, dass sie sie nur unter Schmerzen auf den Boden setzen konnte. Aber sie gab nicht nach. Sie war nicht gewohnt, sich allein zu frisieren, und als sie die Arme hob und ihr Haar zu bürsten begann, wurde ihr übel. Die Frisur wollte nicht gelingen. Ihr Haar war wunderschön, sehr fein und von einem tiefen, leuchtenden Goldblond. Ihre Augenbrauen waren gerade und dunkel. Sie zog einen schwarzen Rock an und dazu das Mieder des Abendkleides, das sie am liebsten hatte: Es war aus weißem Damast, der in jenen Tagen modern war. Sie betrachtete sich im Spiegel. Ihr Gesicht war sehr blass, aber die Haut leuchtete klar: Sie hatte nie viel Farbe gehabt, was die Röte ihres schönen Mundes stets besonders hervorhob. Sie konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken. Aber sie durfte es sich nicht gestatten, sich selbst zu bemitleiden; schon jetzt fühlte sie sich müde; sie legte den Pelz um, den Henry ihr im vergangenen Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte – sie war damals so stolz und glücklich gewesen –, und schlüpfte klopfenden Herzens die Treppen hinunter. Unbemerkt gelangte sie aus dem Haus und fuhr zu einem Fotografen. Sie bezahlte ein Dutzend Bilder. Sie musste inmitten der Sitzung um ein Glas Wasser bitten; der Assistent bemerkte, dass sie krank war, und schlug ihr vor, an einem anderen Tag wiederzukommen, aber davon wollte sie nichts hören. Endlich war die Aufnahme vorbei, und sie fuhr wieder in das schäbige kleine Haus in Kensington zurück, das sie von ganzem Herzen hasste. Es war schrecklich, in einem solchen Haus sterben zu müssen.
    Die Haustür stand offen, und als sie vorfuhr, rannten Emma und das Mädchen die Treppe herab, um ihr zu helfen. Sie waren erschrocken, als sie das leere Zimmer entdeckt hatten. Zuerst hatten sie gedacht, sie wäre zu Miss Watkin gegangen, und hatten die Köchin hinübergeschickt. Miss Watkin war mit dieser zurückgekommen und wartete ängstlich im Salon. Nun erschien sie besorgt und vorwurfsvoll auf der Treppe; aber die Anstrengung war zu groß für Mrs. Carey gewesen; als sie nicht länger Stärke zeigen musste, brach sie zusammen. Sie fiel in Emmas Arme und wurde ins Schlafzimmer hinaufgetragen. Lange blieb sie bewusstlos, allzu lange für die, die sich um sie bemühten, und der Arzt, nach dem sofort gesandt worden war, kam nicht. Erst am nächsten Tag, als sie sich ein wenig besser fühlte, gelang es Miss Watkin, sie zu einer Erklärung zu bewegen. Philip spielte auf dem Fußboden im Schlafzimmer seiner Mutter, und keine der Damen schenkte ihm Beachtung. Er verstand nur dunkel, worüber sie sich unterhielten, und hätte nicht sagen können, warum jene Worte in seinem Gedächtnis haftengeblieben waren.
    »Ich möchte, dass der Junge etwas hat, das ihn an mich erinnert, wenn er groß ist.«
    »Ich begreife bloß nicht, warum sie ein Dutzend bestellt hat«, sagte Mr.   Carey. »Zwei Stück hätten genügt.«
    6
     
    Ein Tag war dem anderen sehr ähnlich im Pfarrhaus.
    Bald nach dem Frühstück brachte Mary Ann die Times herein. Mr.   Carey hatte sie gemeinsam mit zwei Nachbarn abonniert. Er bekam sie von zehn bis eins, dann trug sie der Gärtner hinüber zu Mr.   Elis, bei dem sie bis sieben Uhr blieb; schließlich wurde sie ins Gutshaus zu Miss Brooks gebracht, die zwar als Letzte an die Reihe kam, aber dafür den Vorteil genoss, das Blatt behalten zu dürfen. Im Sommer, wenn Mrs.   Carey Marmelade einkochte, erbat sie sich manchmal eine Ausgabe zum Zudecken ihrer Töpfe. Sobald der Vikar sich mit seiner Zeitung zurückgezogen hatte, setzte seine Frau eine Haube auf und ging einkaufen. Philip begleitete sie. Blackstable war ein Fischerdorf. Es bestand aus einer Hauptstraße mit Läden, der
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