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Der Meister

Der Meister

Titel: Der Meister
Autoren: Rosendorfer Herbert
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in einer selbstverständlich größeren Wohnung –, wenn ich mich recht erinnere, umfaßte sie das ganze Stockwerk –, eine alte Generalswitwe namens – ich erfinde jetzt, wie sie wirklich hieß, weiß ich nicht mehr, vielleicht Schnellwitz auf Worstwitz im Havelland. Der Meister pflegte (pflog heißt das eigentlich richtig, aber wer verwendet diese schöne starke Beugung heute noch) etwas Umgang mit der Generalin, die sehr kultiviert und an Musik interessiert war. So etwa alle drei Wochen wurde der Meister , der ja spannend zu erzählen wußte, zum Tee eingeladen (den man in dem Fall eigentlich mit th schreiben sollte: Thee), manchmal zusammen mit einigen alten Freundinnen der Generalin.
    Es war an einem 23. März, einem Tag, an dem vorangegangene Kälte brach und den Schnee auf den Straßen und Wegen zu schuhzerstörendem Matsch verwandelte. Nachmittags gegen vier Uhr, läutete es bei der Generalin. Sie bediente die Gegensprechanlage: ›Ja, bitte?‹ Eine Männerstimme antwortete: ›Tofandor.‹
    Der Generalin sagte der Name nichts. Sie öffnete arglos. Der Lift summte, die Lifttür öffnete sich. Ich kannte die Örtlichkeit, besuchte ja den Meister hier und da, nicht mehr oft, wie gesagt. Ich kannte die Generalin flüchtig. Der Flur war finster und die Generalin extrem kurzsichtig und verlegte ständig ihre Brille. Wenn sie bei der Polizei später sagte, es sei ein sehr alter Herr mit einem langen, grauen Bart gewesen, so ist dem mit Vorsicht zu begegnen. Ganz genau aber sah sie die vor Schneematsch triefenden Schuhe, weshalb sie den Herrn auch nicht zu sich hereinbat, sondern unter der Tür sagte: ›Ich kaufe nichts.‹
    ›Nein, nein‹, sagte der Herr, ›mein Name ist Tofandor, Thremo Tofandor. Ich suche Herrn Dr. Wibesser.‹
    ›Herr Wibesser, der nicht Doktor ist, wohnt oben. Einen Stock höher. Guten Tag.‹
    Ich sah den Meister erst vierzehn Tage später. Ich war wieder einmal verreist …«
    »Nach Venedig? in die Madonna? «
    »Nein, nach Berlin, glaube ich. Als ich zurückkam, lag ein Zettel im Briefkasten: ›Muß dich dringend sprechen. Meister.‹ Als ich ihn sprach, hatte er den ersten Schreck schon überwunden. Jeder wäre zunächst, salopp gesagt, neben den Schuhen, wenn einem ein leibhaftiges Gespenst begegnet, sofern man bei einem Gespenst von ›leibhaftig‹ reden kann.
    ›Da hat sich jemand einen Scherz mit dir erlaubt‹, sagte ich.
    ›Wer sollte das sein? Wer sollte Interesse dran haben?‹
    ›Ich nicht‹, sagte ich und lachte.
    ›Du hast leicht lachen‹, sagte er, ›die Situation war sehr ernst.‹
    Der Meister war gerade damit beschäftigt gewesen, ein Concerto grosso Telemanns zu modernisieren, zu verunstalten, umzuinstrumentieren (u. a. Saxophone, viel Schlagzeug), die Sätze durcheinanderzuwursteln und aus dem ganzen Salat die Tondichtung Der Große Europo op. 49 von Thremo Tofandor zu destillieren.
    ›Was ist das?!‹ habe Tofandor gefragt. Man kann sich vorstellen, wie verdattert der ohnedies ängstliche Meister war.
    ›Ich hätte das nicht tun sollen‹, sagte der Meister zu mir. ›So etwas tut man nicht‹, zerknirscht wie ein Sünder.
    ›Bist du sicher‹, sagte ich, ›daß du den Tofandor wirklich erfunden hast? Nicht irgendwie, so was kommt ja vor, den Namen vor langer Zeit gelesen, scheinbar vergessen hast, doch im unbewußten Gedächtnis ganz hinten gespeichert, von wo er dann als eigene Erfindung wieder aufgetaucht ist?‹
    ›Nein‹, sagte der Meister , ›das heißt: ja. Ich bin mir nicht mehr sicher.‹
    ›Und wie war das, er ist dann wieder gegangen? Mit Drohungen?‹
    ›Mit dunklem Murmeln …‹
    Er habe, sagte der Meister , nachgerechnet: Tofandor, der von ihm erfundene Tofandor, müsse gut achtzig Jahre alt sein. Der Tofandor, der ihm da gegenübersaß, war deutlich jünger. Vielleicht sechzig, fünfundsechzig. Aber er könne sich getäuscht haben. Es sei ja auch dunkel in seiner Dachkammer. Er käme wieder, habe Tofandor gesagt, habe seinen Stock genommen und sei gegangen.
    ›Wann?‹
    ›Das hat er nicht gesagt.‹
    Ich konnte nicht sagen: Ruf mich an, wenn er da ist. Ich bin schnell bei dir – denn der Meister hatte aus Gründen der Sparsamkeit kein Telephon. Handys gab es damals noch nicht. Man staunt, wie wenig lang die Zeit zurückliegt, in der es noch keine Handys gab.
    Du hast von dem rätselhaften Mord nicht gelesen? Es stand doch in allen Zeitungen.«
    »Du weißt, daß ich schon lange im Ausland lebe. So lange schon, daß für mich
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