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Der Maskensammler - Roman

Der Maskensammler - Roman

Titel: Der Maskensammler - Roman
Autoren: C.H.Beck
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beim Hersteller war wegen der politischen Lage nicht möglich. Bernhard machte schließlich die Adresse eines Versandhändlers in Hamburg ausfindig, der aus einem Restbestand zwei Koffer in der gewünschten Größe abgab. Bernhard ließ sie von einem «Tempo»-Dreirad am Güterbahnhof abholen.
    Es waren Prachtexemplare. Das straff gezogene, genoppte Leder duftete nach Zimt und Moschus, die gepolsterten Griffe saßen in mit Zwirn vernähten Schlaufen. Bernhard strich zärtlich über die Messingbeschläge an den Schlössern und Ecken. Im oberen Drittel waren seine Initialen geprägt.
    Behutsam öffnete er die Türen. Die Innenausstattung war unterschiedlich: Der eine hatte Schubladen für Hemden, Pullover, Unterwäsche, Socken und dergleichen und ein Fach mit Rolloverschluss und durchgezogener Leiste für Schuhe. In dem anderen war eine Stange mit flachen Kleiderbügeln angebracht, darüber eine Abteilung für Karten und Schreibutensilien, deren Abdeckung sich nach vorne klappen ließ, sodass in angenehmer Höhe ein Pult entstand. An ihm sah sich Bernhard sitzen und im Schatten einer Palme Notizen und Tagebuchaufzeichnungen machen. Mit kindlicher Freude zog er an den verzierten Ösen der Schubladen, bewunderte ihre Verarbeitung, und als er eine ganz herauszog, um sich zu überzeugen, dass auch die Unterseite mit feinem Leinen bezogen war, entdeckte er hinter einem Tapetentürchen ein Geheimfach. Es war mit rotem Samt ausgeschlagen. Bernhard legte den einzigen kostbaren Gegenstand hinein, den er besaß: die goldene Taschenuhr, die ihm sein Vater zur Konfirmation geschenkt hatte.
    In dem Wirrwarr seiner Vorsätze und Gefühle erschien ihm die durchdachte Ordnung der Koffer als Sinnbild für ein intaktes Leben. Ein jedes Detail war schön und praktisch zugleich, großzügig bemessen, ohne auch nur die kleinste Ecke sinnlos zu verschwenden.Zum ersten Mal konnte er wieder ruhig atmen und war für eine Weile glücklich.
    Vergnügen bereitete ihm bei seinen Einkäufen auch das Stöbern in den Regalen eines Geschäftes für Schreibwaren und Künstlerbedarf. Sorgsam wählte er Zeichenblöcke in verschiedenen Größen, Stifte und schwarze Notizbücher mit roten Ecken aus. Für sie würde er ein Viertel eines Schiffskoffers reservieren.
    In den letzten Tagen vor seiner Abreise stellte er seine Bemühungen ein, er war erschöpft. Er redete sich ein, alles Weitere werde sich schon unterwegs irgendwie regeln lassen. Er träumte von dem sorgenfreien Einerlei der Tage auf See, dem Glücksgefühl, unerreichbar zu sein, der mönchischen Stille der Kabine und von einem Liegestuhl, auf dem er liegend, in maßloser Verschwendung von Zeit über die wogende Fläche des Meeres blicken würde. Es war seine erste wirkliche Reise. Bernhard war noch nie im Ausland gewesen.
    Zu einer Krise war es gekommen, als man ihm im Reisebüro die Zugfahrkarte aushändigte. Er starrte den Mann hinter dem Tresen an, als hätte der ihm gerade sein Todesurteil überreicht. Er versuchte krampfhaft, sich seine Panik nicht anmerken zu lassen, wollte alles rückgängig machen, sein Billett zurückgeben, sagte aber nur laut und vernehmlich: «Wahnsinn! Der helle Wahnsinn!», und rannte auf die Straße. Dort drückte er seine Fäuste gegen die wütend klopfende Halsschlagader: Es gab kein Zurück. Er musste weg, bevor er erwischt wurde und die Falle zuschnappte. Er musste dem Vater entkommen.
    ***
    Bernhard war zu diesem Zeitpunkt achtundzwanzig Jahre alt und studierte im sechzehnten Semester Ethnologie. Die Entscheidung gerade für diesen Studiengang war zufällig gefallen. Auf Empfehlungeines Buchhändlers hatte er eine Abhandlung über die Aborigines gelesen, ein unerwartetes Interesse für den Ahnenkult dieser Ureinwohner Australiens war die Folge gewesen, so hatte er sich – auch um dem Vater nicht zu gehorchen, der für ihn ein Medizinstudium vorgesehen hatte – für ein Fach entschieden, das dieser abschätzig «Völkerkunde» nannte.
    Er verbrachte mehr Zeit in der Universitätsbibliothek als in Hörsälen, merkte nicht, wie die Jahre vergingen, und erschrak, als er zum ersten Mal das Wort «ewiger Student» zu hören bekam. Aber je länger er sich mit den Naturvölkern, den Stammeskulturen und den Besonderheiten archaischer Gesellschaften beschäftigte, umso größer erschien ihm die graue Masse dessen, was er noch nicht wusste. Vorlesungen hatten ihm längst nichts Neues mehr zu bieten. In Seminaren war er kein gern gesehener Gast, denn entweder saß er
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