Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann ohne Vergangenheit

Der Mann ohne Vergangenheit

Titel: Der Mann ohne Vergangenheit
Autoren: Charles L Harness
Vom Netzwerk:
aufgeschlitzt, wurde jedoch jetzt von der Kleidung gehalten. Er zog sich das Schwert aus den Rippen.
    In der vierten Sekunde würde das Seil allmählich gespannt werden, sofern sich die Schlinge um Sheys Hals zugezogen hatte, und alle Wachen würden einige Zeit daran ziehen, ehe einer von ihnen die Geistesgegenwart zeigte, das Seil mit dem Schwert zu durchtrennen. Und bis dahin würde es Alar selbst durchschnitten haben.
    Plötzlich erkannte er, daß die ruckartige, entscheidende fünfte Sekunde verstrichen war und daß er jetzt im freien Fall weiterstürzte.
    Die Schlinge hatte keinen Halt gefunden.
    Er stellte beinahe neugierig fest, daß er jenseits von Panik oder Furcht war. Er hatte sich oft gefragt, wie der Tod kommen würde und wie er ihm entgegentreten würde. Er würde nicht lange genug leben, um seinen Diebsbrüdern erzählen zu können, daß seine Reaktion auf den bevorstehenden Tod einfach eine aufs höchste gesteigerte Wahrnehmung war.
    Daß er einzelne Quarz-, Feldspat- und Glimmerkörner in den Granitblöcken der Wand des großen Gebäudes ausmachen konnte, während es zu ihm hinauf- und vorbeistürzte. Und daß alles, was ihm im zweiten Leben zugestoßen war, mit beinahe schmerzhafter Klarheit vorbeiflitzte. Alles mit Ausnahme des Schlüssels zu seiner Identität.
    Alar wußte nicht, wer er war.
    Während die Todesmühle weitermahlte, durchlebte er erneut den Augenblick, da ihn die beiden Professoren gefunden hatten, einen jungen Mann von etwa dreißig Jahren. Man hatte ihn aufgefunden, wie er völlig verwirrt am Ufer des Ohios entlangwanderte.
    Er durchlebte neuerlich die gründlichen Prüfungen jener weit zurückliegenden Tage. Damals hatten sie fest geglaubt, er sei ein von der kaiserlichen Polizei eingeschleuster Spitzel, und seines Wissens mochte das auch stimmen. Sein Gedächtnisschwund war vollkommen gewesen. Nichts von seinem vergangenen Leben war zu ihm durchgesickert, um ihm – oder seinen zwei neuen Freunden – zu verraten, was er gewesen sein mochte.
    Er erinnerte sich an ihre Überraschung über seinen Wissensdrang, erinnerte sich im einzelnen an die erste und letzte Universitätsvorlesung, die er besucht hatte, und wie er nach der vierten ungenauen Aussage des Vortragenden in einen höflichen Schlummer fiel.
    Er erinnerte sich lebhaft, wie ihm die Professoren, nachdem sie schließlich zu der Oberzeugung gekommen waren, daß sein Gedächtnisverlust nicht vorgetäuscht war, falsche Papiere als Beweis für seine Ausbildung gekauft hatten. Mit Hilfe dieser Dokumente wurde er über Nacht zu einem beurlaubten Doktor der Astrophysik an der Universität Charkow und zum Ersatzdozenten an der kaiserlichen Universität, an der die beiden Professoren unterrichteten.
    Dann kamen die langen nächtlichen Spaziergänge, seine Verhaftung und Mißhandlung durch die kaiserliche Polizei, die wachsende Erkenntnis des Elends um ihn herum.
    Schließlich sah er in den frühen Morgenstunden den übelriechenden, zerbeulten Wagen mit seiner weinenden Last von Sklaven durch die Straßen rattern.
    „Wohin bringt man sie?“ hatte er später die Professoren gefragt. „Wenn ein Sklave zu alt zum Arbeiten ist, wird er verkauft“, war alles, was er aus ihnen herausbringen konnte.
    Aber schließlich hatte er das Geheimnis entdeckt. Das Schlachthaus. Es hatte ihn zwei Kugeln in der Schulter gekostet, die ihm die Wachen verpaßten.
    Von allen Nächten, an die er sich erinnern konnte, hatte ihm jene die meisten Aufschlüsse gebracht. Die zwei Professoren und ein dritter Mann, ein Fremder mit einer schwarzen Tasche, warteten auf ihn, als er am frühen Morgen blind in seine Kammer gekrochen kam. Verschwommen erinnerte er sich an das schmerzhafte Stechen in der Schulter, den weißen Verband und schließlich das augenblickliche Übelsein, das auf etwas folgte, was ihn vom Kopf bis zu den Zehen kitzelnd durchströmte – der Harnisch der Diebe.
    Tagsüber hielt er Vorlesungen über Astrophysik. Nachts lernte er die sanfte Kunst, eine glatte Wand mit bloßen Fingernägeln hinaufzuklettern, hundert Meter in acht Sekunden zu laufen und drei auf ihn losstürzende Kaiserliche zu entwaffnen. In den fünf Jahren seiner Mitgliedschaft in der Gesellschaft der Diebe hatte er den Reichtum des Krösus zusammengestohlen, und die Gesellschaft hatte Zehntausenden von Sklaven damit die Freiheit erkauft.
    Auf diese Weise war Alar zum Dieb geworden, und auf diese Weise bestätigte er jetzt eine unangenehme Maxime der Gesellschaft der Diebe
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher