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Der Mann im Schatten - Thriller

Der Mann im Schatten - Thriller

Titel: Der Mann im Schatten - Thriller
Autoren: Heyne
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Füße.
    »Carlo«, riet ich.
    »Hab schon viel von Ihnen gehört, mein Junge.«
    »Hoffentlich nur Gutes.« Das Badezimmer lag links, Carlo saß genau in der Verlängerung des kurzen Flurs. »Lassen Sie meinen Bruder gehen.«
    Er nickte. »Das werde ich. Geben Sie mir Ihr Handy, und er ist frei.«
    Ich verharrte regungslos auf der Schwelle des Raums.
    »Was ist, wollen Sie nicht reinkommen?«

    Ich atmete tief durch, betrat den Raum, ging an dem Badezimmer vorbei und sah dann die Patientin in ihrem Bett liegen. Schläuche führten von ihrem Handgelenk zu einer Maschine, die einem Geldautomaten auf Diät glich. Ihre Brust hob und senkte sich leicht. Ihr gelblicher Teint erinnerte kaum noch an menschliche Haut.
    »Meine Enkelin«, erklärte er. »Sie kann uns nicht hören.«
    Ich machte ein paar Schritte auf sie zu, dann blieb ich wie angewurzelt stehen. Ihr Haar klebte am Schädel. Sie atmete mit maschineller Unterstützung. Und es schien mir wie ein Sakrileg, sie so anzustarren, aber ich konnte die Augen einfach nicht von ihr wenden.
    »Ihr Name ist Patricia«, sagte Carlo.
    Ich legte meine Hand auf den Pfosten am Ende ihres Betts. Das Adrenalin pulsierte so heftig durch meine Adern, dass ich die Worte kaum hervorbrachte.
    »Ihr Name«, sagte ich, »ist Audrey.«

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    »Danke, Raymond.« Carlo gab mir mein Handy zurück. »Ihr Bruder ist auf dem Weg.«
    Ich schloss die Tür zum Krankenzimmer und stellte einen Stuhl davor. Zwar rechnete ich nicht mehr mit einem Hinterhalt, wollte aber keinerlei Risiko eingehen.
    »In Ordnung«, erklärte ich. »Und jetzt nennen Sie mir einen guten Grund, warum ich Sie nicht umlegen sollte.«

    »Ich weiß nur einen einzigen. Weil Sie kein Killer sind. Und Sie würden auch keinen Wert darauf legen, einer zu werden. Vertrauen Sie in diesem Punkt einem alten Mann.« Carlo, der immer noch in seinem Sessel saß, lehnte den Kopf gegen die Wand.
    »Dieses Kind war das Beste, was Marisa je passiert ist«, fuhr er fort. »Das Beste, was uns allen je widerfahren ist. Nur schade, dass meine Frau, Patricia, sie nie kennengelernt hat. Wir haben sie nach meiner verstorbenen Ehefrau benannt.«
    »Wie rührend, Carlo.«
    Er schüttelte den Kopf, ohne mich anzusehen. »Marisa, meine Tochter... was wissen Sie schon über sie? Sie ist eines der wundervollsten Wesen, die Gott je geschaffen hat. Aber sie ist ein bisschen langsam. Früher sagte man >behindert<. Heute sagt man >in der Entwicklung gehemmt<. Ich sage >langsam<. Nur ein bisschen langsam, das ist alles. Eine gute Mutter. Eine liebende Mutter. Sie braucht bloß ein wenig Unterstützung, mehr nicht. Nun ja. Es ist nicht leicht, damit zu leben. Aber sie wollte leben. Sie wollte mit Jungs ausgehen, Sie wissen schon, alles, was eine junge Frau sich eben so wünscht. Aber vor allem wollte sie ihr eigenes Kind. Besonders nachdem ihre Mutter - meine Patricia - gestorben war. Sie war so besessen von diesem Gedanken. Sie musste einfach ein Kind haben. Ich nehme an, es war für sie ein Weg, mit dem Tod ihrer Mutter fertigzuwerden.«
    »Der Kreislauf des Lebens.«
    »Ja genau, das ist es. Der Kreislauf des Lebens.« Er seufzte. »Aber versuchen Sie mal, sich als alleinstehende, geistig behinderte Mutter bei einer Adoptionsstelle zu bewerben. Jason, haben Sie auch nur die geringste Vorstellung, was es bedeutet, die eigene Tochter in solchen Nöten...« Carlo fixierte
mich. »Nun, ich denke, Sie haben eine Vorstellung davon, oder?«
    »Lassen Sie mich aus dem Spiel«, sagte ich. »Ich glaube, Sie wollten jetzt zu dem Kapitel kommen, in dem Sie Audrey für Marisa entführt haben.«
    Carlos senkte den Kopf. »Sie hat das Mädchen bei diesem Picknick entdeckt. Sie ist ihr überallhin gefolgt, hat sie beobachtet. Damals ist es mir nicht weiter aufgefallen. Aber ab dem Punkt war sie völlig darauf fixiert. Sie redete ständig nur noch von Audrey, Audrey.« Er schüttelte den Kopf. »Und dieser Mann, Frank Cutler, er war kein guter Mann. Ein Trinker, das war er. Die Hälfte der Zeit erschien er betrunken zur Arbeit. Die andere Hälfte erschien er gar nicht.«
    »Warten Sie«, unterbrach ich ihn. »Sie versuchen doch wohl nicht ernsthaft, das alles auch noch zu rechtfertigen?«
    Er starrte mich an, die Ahnung eines Lächelns huschte über sein Gesicht. »Was bleibt einem anderes übrig? Man rechtfertigt sich. Man redet sich ein, man könnte diesem kleinen Mädchen ein besseres Leben schenken, als sie es bei diesem Versager von Vater gehabt hätte. Ja, man sucht
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