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Der Mann im braunen Anzug

Der Mann im braunen Anzug

Titel: Der Mann im braunen Anzug
Autoren: Agatha Christie
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Bitte sagen Sie geradeheraus, was Sie denken. Sie äußerten bei der Leichenschau, es habe sich bestimmt nicht um Selbstmord gehandelt?»
    «Ja, ich bin dessen ganz sicher. Der Mann war fürchterlich erschrocken. Wer oder was hatte ihn in eine solche Panik versetzt? Ich jedenfalls nicht. Aber jemand hätte hinter mir herkommen können – jemand, den er wiedererkannte.»
    «Sie haben niemanden gesehen?»
    «Nein», gab ich zu. «Ich habe den Kopf nicht gedreht. Doch kaum lag der Tote wieder auf dem Bahnsteig, da drängte sich auch schon ein Mann vor, um ihn zu untersuchen, und behauptete, er sei Arzt.»
    «Das ist keineswegs ungewöhnlich», erwiderte der Inspektor trocken.
    «Er war aber kein Arzt.»
    «Was?»
    «Er war kein Arzt», wiederholte ich ruhig.
    «Woher wollen Sie das wissen, Miss Beddingfeld?»
    «Das lässt sich schwer erklären. Ich habe während des Kriegs in Krankenhäusern geholfen und viele Ärzte bei der Arbeit gesehen. Ärzte besitzen eine gewisse Art von empfindungsloser Geschicklichkeit, die diesem Mann fehlte. Außerdem pflegen Ärzte für gewöhnlich nicht auf der rechten Seite eines Körpers nach dem Herzen zu suchen.»
    «Und das tat dieser Mann?»
    «Ja. Im ersten Moment fiel es mir nicht auf, ich hatte nur das unbestimmte Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung sei. Aber ich habe die Stellungen ausprobiert, als ich nach Hause kam, und da entdeckte ich natürlich, weshalb mir alles so unecht erschienen war.»
    «Hm», machte der Inspektor. Langsam griff er nach Papier und Stift.
    «Während dieser Mann den Körper abtastete, hatte er natürlich genügend Gelegenheiten, die Taschen zu leeren.»
    «Das scheint mir unwahrscheinlich», entgegnete der Inspektor. «Aber können Sie mir den Mann beschreiben?»
    «Er war groß und breitschultrig, trug einen dunklen Mantel und schwarze Schuhe sowie einen Filzhut. Er hatte einen dunklen Spitzbart und eine Brille mit Goldrand.»
    «Nimmt man den Mantel, den Bart und die Brille weg, dann bleiben nicht viele Erkennungszeichen übrig», knurrte der Inspektor. «Er konnte sein ganzes Aussehen innerhalb von fünf Minuten ändern, wenn er wirklich der gerissene Taschendieb ist, für den Sie ihn zu halten scheinen.»
    Das entsprach keineswegs meiner Ansicht. Aber von diesem Augenblick an gab ich den Inspektor als hoffnungslos auf.
    «Ist das alles, was Sie uns über den Mann sagen können?», fragte er, als ich mich erhob.
    «Nein», erwiderte ich lächelnd und ergriff die Gelegenheit zu einem letzten Schuss. «Seine Kopfform war ausgesprochen brachyzephal. Das wird er nicht so leicht ändern können.»

5
     
    In der ersten Hitze der Empörung fiel mir mein nächster Schritt leicht. Ich hatte eigentlich nur einen ganz unklaren Plan gehabt für den Fall, dass mein Besuch bei Scotland Yard unbefriedigend verlaufen sollte – und er war mehr als das! Es schien mir allerdings vorher keineswegs sicher, dass ich den Mut dazu aufbringen würde.
    Doch Dinge, die man mit ruhigem Blut kaum zu unternehmen wagt, werden in einer Aufwallung des Ärgers plötzlich ganz einfach. Ohne mir Zeit zum Überlegen zu lassen, begab ich mich umgehend zum Haus von Lord Nasby.
    Lord Nasby war der millionenschwere Besitzer des Da i ly Budget. Durch eine kürzliche Publikation über den Tagesablauf des großen Mannes wusste ich, wo er sich im Moment aufhielt. Zu dieser Zeit war er mit seiner Sekretärin zu Hause beim Diktat.
    Natürlich nahm ich nicht an, dass er jede beliebige junge Dame empfangen werde, die ihn zu sprechen wünschte. Doch dafür hatte ich vorgesorgt. Im Haus der Flemmings hatte ich eine alte Besucherkarte des Marquis of Loamsley entdeckt, dem berühmten Sportsmann. Diese hatte ich mit Brotkrumen gründlich gesäubert und darauf die Worte geschrieben: «Bitte schenken Sie Miss Beddingfeld ein paar Minuten Zeit.» Abenteuerinnen dürfen in ihren Methoden nicht zimperlich sein.
    Mein Trick hatte Erfolg. Ein Diener in Livree nahm meine Karte in Empfang, und bald darauf erschien ein bleicher Sekretär, den ich mit Leichtigkeit überwand. Geschlagen zog er sich zurück und kam kurz darauf wieder mit der Bitte, ihm zu Lord Nasby zu folgen. Ich betrat ein großes Arbeitszimmer, aus dem gleichzeitig eine verschüchterte Stenotypistin flüchtete. Die Tür schloss sich hinter mir, und ich stand dem großen Mann gegenüber.
    Ein großer Mann in jeder Beziehung. Ein gewaltiger Kopf mit dichtem Bart und Fleischmassen. Ich riss mich zusammen, denn schließlich war ich nicht
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