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Der Mann hinter dem Vorhang

Der Mann hinter dem Vorhang

Titel: Der Mann hinter dem Vorhang
Autoren: Félix J. Palma
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von der sie zwar nicht recht wusste, wozu sie gut sein sollte, die sie beide jedoch miteinander verband, wie nichts anderes es vermochte, sie zu Geächteten der Zeit machte und sie dem unaufhaltsamen Verschleiß enthob, dem wir übrigen Menschen ausgesetzt waren.
    Ich steckte den Brief wieder ein und beobachtete den Mann hinter dem Vorhang, der eine undeutliche Kopfbewegung machte, die vielleicht wehmütig wirken sollte. Eva hatte eine wunderschöne Geschichte zusammengestrickt, die nicht nur bestätigte, was er mir schon erzählt hatte, sondern auch die schöne, kraftvolle Physiognomie erklärte, die sich hinter dem Vorhangstoff abzeichnete, an der die Erschütterungen und Verwerfungen des Alters spurlos vorübergegangen waren. Es gefiel mir, mit einer Erfindung zu antworten, die seiner ähnelte; ihm auf eine elegante Weise zu verstehen zu geben, dass ich seine Lügenmärchen tolerierte, da es letzten Endes seine Sache war, warum er hinter dem Vorhang stand.
    Ich hatte den Eindruck, mich mit dem Vorlesen des Briefes auf die bestmögliche Art von ihm verabschiedet zu haben. So stand ich denn auf und wollte schon nach meinen Koffern greifen und gehen, als ich spontan einen Schritt nach vorn tat und den Vorhang zur Seite zog. Ich fragte mich dabei, warum ich es nicht schon längst früher getan hatte. Die Großmutter hatte es aus Angst vermieden; Eva, weil sie ahnte, dass nur die Erhaltung des Geheimnisses sie vor einer Enttäuschung bewahren konnte; und Marta wahrscheinlich, weil sie den Blick des einzigen Zeugen ihrer Ruchlosigkeiten nicht ertragen hätte. Ich jedoch hatte keinen Grund, es nicht zu tun. Außerdem war es nicht nur Neugier, die mich dazu trieb, sondern die Hoffnung, dass das Geheimnis des Vorhangs mir irgendeine Ausflucht bieten könnte, um mich meinem Schicksal nicht stellen zu müssen; einen Grund, der mich der ärgerlichen Verpflichtung enthöbe, so schweren Herzens ein neues Leben zu beginnen.
    Der Mann hinter dem Vorhang war ein Durchschnittstyp um die vierzig, mit hängenden Schultern, spitznasigem Gesicht und dem Aussehen eines Saaldieners. Ich weiß nicht, wen ich hinter dem Vorhang erwartet hatte; aber ich war doch enttäuscht, mich einem so nichtssagenden Menschen gegenüberzusehen, der keinerlei Wesenszug besaß, der es gerechtfertigt hätte, dass er sich in meinem Wohnzimmer verbarg, wenngleich mir völlig unklar war, was für ein Wesenszug dies hätte sein können. Er schaute mich mürrisch an, als missbillige er meine Tat, habe zugleich aber schon darauf gewartet, so als kenne er sie von sich selbst aus der Vergangenheit. Eine Weile starrten wir uns an und wussten nicht, was wir sagen sollten. Schließlich ließ der Mann einen wehmütigen Blick durch das Zimmer schweifen, trat dann hinter dem Vorhang hervor, schenkte mir ein letztes nervöses Lächeln und marschierte etwas steifbeinig aus der Wohnung.
    Zum ersten Mal war ich im Wohnzimmer allein, stand neben dem zurückgezogenen Vorhang. Ich betrachtete die Leerstelle, die der Mann hinterlassen hatte, und konnte der Versuchung nicht widerstehen, seinen Platz einzunehmen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie er unser Familienleben gesehen hatte. Ich fühlte eine große Erleichterung, als ich die Wand im Rücken spürte und die Fußleiste an meinen Fersen, und ich zog den Vorhang nur zu, um alle Empfindungen detailgetreu nachzuerleben. Doch als ich dies tat, begriff ich plötzlich, dass auf dieselbe Weise auch der Ehemann von Virtudes verschwunden war; ich erkannte, dass dieser dann vom nächsten Mieter abgelöst worden war und so eine Kettenreaktion des Verschwindens ausgelöst hatte, die jetzt mit meinem eigenen fortgesetzt und bis ans Ende aller Tage andauern würde. Der Mann hinter dem Vorhang, das erkannte ich jetzt, waren wir alle und war keiner; Männer, die keinen besseren Weg gefunden hatten, vor sich selbst zu fliehen, als zu einer Person zu verschmelzen, eingeschlossen im Bernsteintropfen des ewigen, lustvollen Wartens, das uns vor den Unbilden des Lebens beschützte; ein von ferner Liebe zehrender Mann, der bebenden Herzens darauf wartete, dass eine Frau, die nur noch Erinnerung war, den Vorhang zur Seite zöge.

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