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Der Mann hinter dem Vorhang

Der Mann hinter dem Vorhang

Titel: Der Mann hinter dem Vorhang
Autoren: Félix J. Palma
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unseren Einzug als ein Eindringen in sein Reich oder als Abwechslung in seiner Einsamkeit empfand, habe ich nie erfahren. Eine Veränderung in seinem Verhalten haben wir jedenfalls nicht feststellen können, denn, wie die Maklerin schon gesagt hatte, er war stumm wie ein Grab, und der Sturmwind einer sich in die neue Wohnung einfindenden Familie schien ihn vollkommen unberührt zu lassen. Er pflegte nur mit zaghaften Kopfbewegungen auf die Fragen unserer Tochter Eva zu antworten, die als Einzige versuchte, so etwas wie Freundschaft zu dem merkwürdigen blinden Passagier in unserem Familienleben herzustellen, und nur wer im Morgengrauen auf der Suche nach einem Glas Wasser das Wohnzimmer durchquerte, hörte manchmal ein leises Geräusch hinter dem Vorhang, ein unverständliches Gemurmel, ein Seufzen im Traum. Doch gerade diese Zurückhaltung, die Tatsache, dass wir keine Ahnung hatten, was der Mann hinter dem Vorhang von uns hielt, war uns unangenehm und führte eine Zeitlang dazu, dass wir beispielsweise keine Schimpfwörter mehr benutzten und möglichst keine Banalitäten mehr von uns gaben, sondern uns bemühten, in allem, was wir taten, unnatürlich würdevoll und hochethisch zu erscheinen. Zum Glück fühlten wir uns nicht allzu lange durch seine Anwesenheit und Beobachtung eingeschüchtert und fanden bald zu verlorener Schlichtheit und erfreulicher Gewöhnlichkeit zurück. Es störte mich nicht einmal mehr, wenn Marta nur mit einem umgeschlungenen Badetuch durchs Wohnzimmer lief; ich ermunterte sie sogar dazu, weil ich unserem Spion mit dieser aufgesetzten Toleranz zu verstehen geben wollte, dass er für mich in jeder Hinsicht ein Eunuch war, eine Art pflanzliche Gegenwart, die einen nicht einmal würde hindern können, seinen schlimmsten Lastern zu frönen oder ausgefallene Morde zu begehen. Für mich war er ein Niemand, beinahe ein Nichts, eine Art Tier vielleicht oder Geist, dem Eva ein Schüsselchen Milch hinstellen oder mal meinen Rasierapparat borgen konnte.
    Und trotzdem. Die Zeit verging, aus Tagen wurden Jahre, doch das Rätsel des Mannes hinter dem Vorhang beschäftigte uns immer noch. Jeder von uns hatte eine andere Meinung über ihn. Großmutter, die uns nur selten der Teilhabe an ihrem stundenlangen Grübeln für würdig erachtete, überraschte uns eines Abends beim Essen mit der etwas jenseitigen Bemerkung, hinter dem Vorhang verberge sich kein Geringerer als Gevatter Tod. Ich nahm an, dass ihre Vermutung auf die zahllosen chirurgischen Eingriffe und Flickschustereien zurückzuführen war, denen sie sich in den letzten zehn Jahren hatte unterwerfen müssen; fruchtlose Rettungseinsätze, die ihr offenbar die Gestalt des Sensenmannes ins Bild gerückt hatten, der hinter dem Vorhang hervortrat, ihr seine knöcherne Hand auf die Schulter legte und zu ihr sagte: «Auf geht’s, Dolores, verabschiede dich von dieser unseligen Bande, das war’s jetzt für dich.» Und sie würde sich brav erheben und hinter den Vorhang führen lassen, ohne eine Geste des Abschieds, höchstens rasch noch über den Kopf ihrer Enkelin streichend, aber ohne ein Dankeswort für ihre Tochter und schon gar nicht für den Unglücksraben von Schwiegersohn, der jedes Mal ihr Asyl verfluchte, wenn sie mitten beim Essen genussvoll dem Todesatem ihrer Eingeweide freien Lauf ließ. Unsere von der Hormonkatastrophe der Adoleszenz heimgesuchte Tochter Eva hingegen hatte längst aufgehört, den Mann hinter dem Vorhang als Maskottchen zu betrachten, dem man etwas zu essen zusteckte. Sie sah ihn jetzt mit anderen Augen, betrachtete die hominiden Umrisse, die sich hinter dem Vorhang abzeichneten, mit erwachender Neugier und Schwärmerei. Eva wuchs mit dem Vorhang auf, mit dem, was sie dahinter sah, derweil ihre Freundinnen von Filmstars träumten, die eine wie die anderen jedoch im Alltag stets zurückgeworfen auf die unwiderrufliche, schäbige Wirklichkeit von Klassenzimmer und Schulbank. Ein paar misslungene Rendezvous mit Klassenkameraden ließen mich erkennen, dass Eva nie mit einem Mann glücklich werden würde; dass etwas in ihr unweigerlich jede Beziehung zerstörte, sobald sich Kontinuität andeutete; dass kein noch so vollkommener Mann es je mit der Gestalt hinter dem Vorhang würde aufnehmen können, mit dieser namenlosen Silhouette, die Evas gesamte Phantasie auf sich zog. Martas Haltung war der meinen am nächsten. Sie schien überhaupt keinen Gedanken an den Mann hinterm Vorhang zu verschwenden, nahm seine Anwesenheit mit
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