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Der Mann, der sein Leben vergaß

Der Mann, der sein Leben vergaß

Titel: Der Mann, der sein Leben vergaß
Autoren: Heinz G. Konsalik
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unglückliche Gattin. Und an den Chefinspektor melden Sie: Fall Pieter van Brouken erledigt. Selbstmord. Motiv: Trübsinn.«
    Ferdinand Brox nahm das Aktenstück auf und drückte Trambaeren die Hand.
    »Wir dürfen uns gratulieren«, sagte er, aber sein Gesicht war ernst. »Das war ein schneller Fall und der merkwürdigste Selbstmord, den ich bisher kenne …«
    Die Morgenzeitungen brachten die Lösung des Rätsels um Pieter van Brouken schamhaft auf der Lokalseite. Ein Selbstmord eines kleinen Beamten war nicht sonderlich interessant und ging in erster Linie die trauernden Hinterbliebenen an.
    Die Steckbriefe mit dem großen Bild wurden abgerissen oder durch Plakate überklebt. Wer achtet denn auf das lächelnde, wohlgenährte Gesicht eines Sparkassenbeamten!?
    Die Gesprächsthemen in der Straßenbahn gingen wieder auf die große Inflation in Deutschland über. Wenn die Deutschen das Jahr 1923 überleben, seien sie gerettet, hieß es.
    Auch um Antje van Brouken und den kleinen Fietje machte man sich keine Sorgen.
    Die Sparkassendirektion hatte in einer Sondersitzung beschlossen, aufgrund des besonderen und einmaligen betrüblichen Umstandes der jungen Witwe ausnahmsweise die im Falle eines regulären Ablebens des Beamten van Brouken zustehende Vollpension zu gewähren, womit der Lebensunterhalt der hinterlassenen Familie gesichert und ein leidlich sorgenfreies Auskommen garantiert war.
    Zwar hatte man die Leiche noch nicht gefunden, aber das schien auch aussichtslos, denn die engen Seitengrachten waren zum Teil tief und am Boden verschlammt und ließen ihre Opfer vom Grund nicht los. Die Polizei hatte wohl die in Betracht kommenden Grachten mit Stangen und Netzen abgesucht, aber ohne Erfolg.
    Die Akte Pieter van Brouken war geschlossen.
    Trübsinn mit nachfolgendem Selbstmord.
    Na ja …
    Pieter van Brouken wurde vergessen …

2
    Als Pieter van Brouken an jenem verhängnisvollen Freitag gegen 7 Uhr abends erwachte, wußte er absolut nicht, wo er sich befand.
    Er fühlte sich frisch, von einer nie gekannten Elastizität beseelt, so, als sei er neugeboren, und als er jetzt erstaunt aufstand und sich mit noch größerem Staunen umblickte, straffte sich sein Körper und verlor die Weichheit, die das regelmäßige Leben in ihm ausgeprägt hatte.
    Mit großen, unwissenden Augen sah er sich nach allen Seiten um und schüttelte den Kopf.
    »Wo bin ich denn bloß?« fragte er sich leise und trat von der Bank weg auf die Straße. »Wie komme ich bloß in diese Stadt?«
    Die versinkende Sonne zauberte lange Schatten über die Grachten. Noch war die Luft heiß, aber die einfallende Dämmerung trübte die Konturen und machte die Häuser stumpf und dumpf.
    Pieter van Brouken sah sich wieder nach allen Seiten um, blickte auf die Menschen, auf die Nummernschilder der Autos, auf die Schriften und Plakate in den Läden und schüttelte den Kopf.
    Ein fremdes Land, dachte er erschreckt. Wie komme ich in ein fremdes Land?
    Er zog den Hut und erstarrte in Verwunderung. Was trug er da für einen unmöglichen Filz? Wo war denn sein weißer Panama? Er blickte an sich herunter, sah den biederen, grauen Kammgarnanzug und befühlte sich mit wachsender Erregung.
    Wie kam er in die fremden Kleider? Was sollte das alles bedeuten? Wo war er denn überhaupt?!
    Er griff in die Seitentasche, holte eine abgegriffene Brieftasche aus billigstem Schalleder heraus und starrte verwundert auf einen Paß, der in der Mappe lag.
    »Pieter van Brouken«, las er stockend. »Amsterdam, Noorderstraat 5. – Blöd, ausgesprochen blöd!« Er betrachtete den Paß von allen Seiten und runzelte die Stirn. »Wie kommt dieser fremde Ausweis mit dem fremden Anzug in meinen Besitz? Himmelherrgott, wo war er denn überhaupt?!«
    Er grüßte und sprach einen vorübergehenden Herrn an. Dieser sah ihn groß an, lächelte, zuckte mit den Schultern und antwortete ihm in einer fremden, hart klingenden Sprache.
    Mit einer Entschuldigung wandte sich Pieter ab und fragte den nächsten. Dasselbe Schulterzucken, dieselbe fremde, harte Sprache …
    Eine ungeheure Unruhe durchtobte das Innere van Broukens.
    Er war ja in einem völlig fremden Land, ausgesetzt, ohne Geld – wie er sofort feststellte –, in fremden Sachen mit einem fremden Paß!
    Er rannte die Heerengracht hinab bis zum Parktheater und starrte auf die breiten Entrepot-Docks, die vor ihm lagen.
    Überall Wasser, rief er sich zu, überall Kanäle, Brücken, Kähne, Häuser auf Pfählen, ein Dock, in der Ferne ein Hafen
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