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Der Mann, der sein Leben vergaß

Der Mann, der sein Leben vergaß

Titel: Der Mann, der sein Leben vergaß
Autoren: Heinz G. Konsalik
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durch mich nicht aufhalten, mein Fräulein. Sicherlich wartet Ihr Bräutigam dort hinten an der Ecke. Und Männer warten nie gern … Und nochmals besten Dank.«
    Zögernd entfernte sich das Mädchen. Ab und zu blieb es stehen und blickte sich nach der Bank um. Endlich bog es um die Ecke der Heerengracht. Erleichtert atmete van Brouken auf. Nur keinen Skandal, dachte er, nur keinen Auflauf. Gerade jetzt nicht, wo ich befördert bin und mein Gehalt steigt. Antje soll sich freuen und von dem Anfall nichts erfahren, und zum Arzt wird auch einmal gegangen. Erst das Siedlerhäuschen an der Amstel, drei oder vier Zimmerchen mit einem Blick auf den Fluß und einer kleinen Spielwiese für Fietje. Vielleicht auch ein Obst- und Gemüsegärtchen hinten dran … na ja, kommt Zeit, kommt Rat …
    Wenn dieser ekelhafte Druck im Hinterkopf nicht wäre! Und vor den Augen liegt noch immer der Schleier, die Glieder sind schwer wie Blei, und müde ist er, schrecklich müde.
    Überarbeitung, dachte van Brouken, absolute Überarbeitung. Immer rechnen, immer diese Zahlen, zigtausend Gulden täglich … und die Verantwortung … das reibt auf.
    Er schloß wieder die Augen und legte den schmerzenden Kopf seitlich auf die Rückenlehne der Bank.
    Dann wußte er nichts mehr.
    Er schlief. Mit langen, tiefen Atemzügen.
    Über die Nieuwe Heerengracht brandete lärmend der Großstadtverkehr, die Schritte der vorübergehenden Menschen klapperten auf dem Asphalt.
    Pieter van Brouken hörte es nicht.
    Sein Schlaf war bleiern, abgrundtief, entführend …
    In ihrer engen Kochnische, die sich an die helle, geräumige Wohnküche anschloß, hantierte Antje van Brouken mit Tellern und Tassen. Sie spülte das Mittagsgeschirr und stellte das Kaffeegedeck für den erwarteten Pieter zurecht. In seinem hölzernen Laufstall, der in einer Ecke der Küche stand, krähte der kleine Fietje und boxte im Freistil mit einem arg zerzausten, dicken, hellbraunen Teddybären.
    Antje van Brouken war der Typ eines ›lieben Frauchens‹. Weder hübsch noch häßlich, weder schlank noch drall, weder klug noch dumm, aber peinlich sauber, anständig, mit einem goldenen Herzen und stolz auf ihre hausfraulichen Kenntnisse vertrat sie die Menge der stillen, unablässig arbeitenden Frauen.
    Antjes Haare waren von einem unwahrscheinlichen Blond, und die Stupsnase gab dem alltäglichen Gesicht die Note einer Pfiffigkeit, von der Gebrauch zu machen sie nie in die Gelegenheit gekommen war.
    Der kleine Fietje, der einen vollendeten Kinnhaken bei Teddy gelandet hatte, jauchzte auf und brüllte vor Freude. Lächelnd blickte Antje aus ihrer Kochnische und nickte dem Kleinen zu. In diesem Augenblick war sie die Schönste aller Frauen.
    »Gleich kommt der Papi«, rief sie. »Sei schön brav und mach den Teddy nicht kaputt!«
    Dann trocknete sie weiter die Teller ab und sang mit einem dünnen, hellen Stimmchen ein altes Volkslied, das die Fischer ihrer Heimat des Abends am rauchenden Ofen gröhlten.
    Als sie fertig war, deckte sie für Pieter den Tisch, setzte Brot und Butter zurecht, schüttete frischen Malzkaffee auf und blickte auf die Uhr. Sie wunderte sich, daß die minuziöse Pünktlichkeit Pieters bereits um fünfeinhalb Minuten überschritten war, dann ging sie zum Fenster, setzte sich in einen alten Lehnstuhl und nahm ein Kopfkissen auf, dessen Inlett sie gerade flickte.
    Der kleine Fietje, etwas stiller geworden, zerlegte gewissenhaft ein großes Holzauto.
    Als es von der nahen Kirche des hl. Willebrordus sechs Uhr schlug, wurde Antje ein wenig unruhig und setzte den Kaffee in der Kochnische warm. Die Unpünktlichkeit Pieters war ihr unbegreiflich. Soweit sie sich erinnern konnte, war es in ihrer fünfjährigen Ehe bisher nur dreimal vorgekommen, daß er eine halbe Stunde später von der Sparkasse kam: einmal beim Jahresabschluß, einmal bei einer Direktionsvisite und einmal bei einem Unterschlagungsfall einer untergeordneten Angestellten. Immer aber hatte Pieter bei der Nachbarin angerufen und Bescheid gegeben, so daß sie nie im ungewissen blieb.
    Das Ungewohnte der Verspätung machte Antje ratlos und nachdenklich. Sie kochte für Fietje einen dicken Grießbrei und fütterte ihn, badete ihn dann in einer kleinen Wanne und brachte ihn in das neben der Küche liegende Schlafzimmer zu Bett. Damit er schnell einschlief, sang sie ein leises, wehmütiges Schlafliedchen und schlüpfte dann auf Zehenspitzen aus dem Zimmer.
    Als sie in die Küche trat, schlug es halb sieben Uhr.
    Von
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