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Der Mann, der sein Leben vergaß

Der Mann, der sein Leben vergaß

Titel: Der Mann, der sein Leben vergaß
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Pieter keine Spur.
    Unruhig setzte sie sich ans Fenster und blickte auf die am Abend stark belebte Noorderstraat. Sie dachte dabei eigentlich an nichts als an die Frage, warum Pieter so spät käme und warum er nicht wie immer vorher angerufen habe.
    Als es sieben Uhr schlug, stand sie auf und ging hinüber zur Nachbarin. Schüchtern fragte sie, ob sie einmal telefonieren könne. Ihr Mann sei noch nicht da, und das beunruhige sie.
    Die Nachbarin, eine joviale, dickliche Postinspektorswitwe, nickte ihr lächelnd zu und öffnete die Stubentür.
    »Aber selbstverständlich, Frau van Brouken«, sagte sie freundlich. »Ich kenne das von meinem Mann. Sie reiben sich an der Arbeit auf, denken nicht an ihre Frauen und sterben früh. Das einzige Andenken, das sie hinterlassen, ist eine leidlich anständige Pension.«
    Sie warf einen schnellen, wehmütigen Blick auf das Bild ihres dicken Mannes und schob Antje vor den schwarzen Telefonkasten.
    Schüchtern blickte die junge Frau auf die glitzernde Drehscheibe, nahm zögernd den Hörer ab und wählte mit unsicheren Fingern die Nummer der Sparkasse. Nach einer Weile des Wartens meldete sich eine Stimme. Antje stotterte in die Muschel:
    »Ja … hier Antje van Brouken … Ist mein Mann noch da? … Brouken … Ja! – Nein? Wieso nein?! Mein Mann ist nicht da? Wieso? Ja … er ist noch nicht hier … Was? – Er ist pünktlich weggegangen? Ja – danke …«
    Klick!
    Der Hörer lag auf der Gabel. Ratlos blickte sich Antje nach der Inspektorswitwe um.
    »Er ist nicht da«, stammelte sie. »Er ist pünktlich weggegangen …«
    Die alte, joviale Dame lächelte und streichelte ihr über das helle Haar.
    »Nur keine Sorge, kleines Frauchen. Wird schon einen Freund getroffen haben oder einen früheren Schulkameraden, und nun sind sie …«
    Antje schüttelte den Kopf.
    »Pieter hat keinen Freund«, unterbricht sie. »Er ist immer pünktlich!«
    »Vielleicht ein Kollege.«
    »Dann hätte er angerufen.«
    »Oder er ist auf dem Weg hierher durch irgend etwas aufgehalten worden«, wagte die Dame einzuwenden.
    »Pieter läßt sich nicht abhalten!« sagte Antje fest und setzte sich neben das Telefon auf einen dunkelblauen Plüschstuhl. Und plötzlich wurden ihre hellen, blauen, gütigen Augen starr und groß, und sie stammelte: »Da ist etwas geschehen – ein Unglück, irgend etwas Schreckliches … ich fühle es – mein Gott …«
    Ohne daß sie es wollte, weinte sie lautlos. Die Tränen rannen ihr einfach aus den Augen, und sie hatte keine Kraft, sie zurückzuhalten.
    Die Postinspektorswitwe sah ratlos auf Antje hinab und wußte nicht, was sie sagen sollte. Wenn ein Mann eine Stunde später nach Hause kommt, brauchte ja nicht gleich ein Unglück geschehen zu sein. Die Sorge der jungen Frau schien ihr übertrieben und kindisch.
    »Uns bleibt nichts übrig, als geduldig zu warten«, sagte sie nach einer langen Pause. »Wenn Ihr Mann bis 10 Uhr noch nicht gekommen ist, bleibt uns noch ein Weg: die Polizei!«
    »Die Polizei?« fragte Antje erschreckt und zuckte auf.
    »Wir müssen ihn suchen lassen …«
    »Sie glauben auch, daß …« Antjes Augen waren weit aufgerissen. Sie wagte nicht, den Satz zu Ende zu sprechen.
    »Ich glaube nichts«, sagte die joviale Dame. »Man muß nur auch damit rechnen.« Dann beugte sie sich über die wieder weinende Antje und legte den Arm tröstend um ihre Schulter. »Warten wir eben noch ein Weilchen. Wenn er dann kommt, ist ja alles gut. Ihr Mann hat Sie verwöhnt, kleine Frau – Sie müssen ihm auch einmal eine Stunde Freiheit lassen.«
    Und sie warteten zusammen, tranken Kaffee und knabberten Plätzchen.
    Warteten geduldig und wurden stiller und stiller.
    Sie warteten, bis es vom Turme des hl. Willebrordus 10 Uhr schlug.
    »Das Leben ist stinklangweilig geworden«, sagte der Kriminalinspektor Felix Trambaeren und legte die Zeitung auf seinen breiten Schreibtisch. »Die Menschen scheinen besser geworden zu sein!«
    Kriminalassistent Ferdinand Brox nickte und gähnte.
    »Seit einem Jahr kein Mord mehr! 7 Gewaltverbrechen, 14 Überfälle, 4 einwandfreie Selbstmorde, 217 Einbrüche, 19 Erpressungen, eine Entführung und 397 kleinere Sachen. Man wird in Amsterdam äußerst sittsam!«
    Das Zimmer, in dem diese Statistik mit süß-saurer Miene heruntergeleiert wurde, lag im Amsterdamer Gerichtsgebäude an der Prinsengracht. Es war dem diensttuenden Kommissar zur Verfügung gestellt worden, um bei Verhaftungen gleich mit dem Untersuchungsrichter Fühlung zu
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