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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
Autoren: Simon X. Rost
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über dem Dach auf. Dobbins legte auf Tom an und drückte ab, aber Tom war schneller. Er schoss, und die Kugel fetzte Dobbins die Waffe aus der Hand, sie schlitterte über das Waggondach und fiel hinunter.
    Dobbins stieß einen schrillen Schrei aus und rannte zum anderen Ende des Waggons. Tom stieg die letzten Sprossen der Leiter hinauf und schwang sich auf das Dach. Der Fahrtwind fegte ihm durch die Haare, der Waggon schwankte unter seinen Füßen, und die Landschaft raste an ihm vorbei.
    Dobbins stand am anderen Ende des Daches, er hatte Tom den Rücken zugewandt und schien zu überlegen, ob er es wagen sollte zu springen. Der Zug dampfte den Hydesburg Hill hinauf; neben dem Gleisbett fiel das felsige Gelände steil ab. Einen Sprung würde er nicht überleben.
    Das wäre zu einfach für das Schwein.
    »Stehen bleiben! Nehmen Sie die Hände hoch!« Tom richtete die Waffe von hinten auf Dobbins und ging langsam zu ihm hin. »Umdrehen! Sofort!«
    Vier Schritte von Dobbins entfernt blieb Tom stehen. Er stellte sich breitbeinig hin und stemmte die Füße in das gewölbte Dach. Wenn einer von ihnen stolpern würde, wäre das sein letzter Fehler. »Wird’s bald?«, schrie er, um den Fahrtwind und das Geratter der Lokomotive zu übertönen.
    Dobbins drehte sich ganz langsam um. Ein freundliches, fast gütiges Lächeln spielte um seine Lippen. »Tom. Du erstaunst mich immer wieder. Ich dachte, wir hätten uns in der Höhle zum letzten Mal gesehen. Wie geht’s Becky?«
    »Halten Sie die Klappe! Wir gehen jetzt zurück zur Leiter, und Sie werden ganz langsam vor mir hinuntersteigen!«
    Der Fahrtwind riss Dobbins die Perücke vom Kopf. Mit einem Mal sah Toms ehemaliger Lehrer sehr alt aus. Nur ein paar dünne graue Strähnen wirbelten um die faltige Stirn und um die blasse Glatze. Tränen schimmerten in Dobbins’ wässrigen blauen Augen. Auch der Fahrtwind? »Tom, ich … ich kann das nicht. Ich habe über zwanzig Jahre lang die Kinder dieser Stadt unterrichtet. Die Menschen schätzen mich. Ich kann nicht zurück und –«
    »Schnauze! Wir gehen jetzt da runter!« Tom richtete den Lauf des Revolvers auf Dobbins’ Kopf.
    Der Lehrer seufzte ergeben, nickte kaum wahrnehmbar und ging los. Tom musste einen kleinen Schritt zur Seite machen, um ihn an sich vorbeizulassen. »Hände hinter den Kopf!«
    Dobbins legte langsam die Hände hinter den Kopf. Plötzlich schnellte er vor und packte Tom am Arm. Er schlug die Zähne in Toms rechtes Handgelenk. Tom schrie auf und ließ die Waffe fallen. Er versetzte Dobbins mit der Linken einen Hieb, doch er traf ihn nicht richtig. Dobbins ließ sich bäuchlings auf das Dach fallen, wollte nach dem Revolver greifen, der über die Wölbung nach unten rutschte. Tom trat ihm in die Seite. Dobbins stöhnte auf und rollte sich auf den Rücken. Die Waffe blieb in dem kleinen Vorsprung am Rand des Daches liegen. Tom rutschte auf dem Bauch über das Dach auf den Abgrund zu. Von der Lokomotive her ertönte ein lauter Pfiff.
    Tom griff nach dem Revolver, bekam ihn mit den Fingern beinahe zu fassen, doch der Zug legte sich in eine Kurve, und Tom rutschte über die Dachkante. Sein Körper schrammte über den kleinen Vorsprung, Toms Hand schnellte vor, er packte die Kante, klammerte sich mit einer Hand fest. Das Blech schnitt ihm in die Finger, und Tom brüllte auf vor Schmerz. Sein Körper hing in der Luft, mit den Beinen stieß er gegen die Fensterscheiben des Waggons. Unter ihm schossen schroffe Felsen vorbei. Er ließ den Revolver fallen und griff mit der nun freien Hand nach der Kante und zog sich hoch.
    Auf einmal war Dobbins über ihm und trat ihm mit seinen glänzenden schwarzen Stiefeletten auf die Hand. »Ich habe dir gesagt, ich kann nicht zurück, Tom. Das eherne Gesetz der Natur, Tom, weißt du noch? Das Überleben des Stärkeren.«
    Das Blech schnitt ihm tief ins Fleisch. Toms Gesicht verzog sich vor Schmerz. Seine Finger wurden taub. Das Blut lief ihm über das Handgelenk in den Ärmel. Wieder gellte der Pfiff der Lokomotive.
    »Lass los, Tom. Mach es dir nicht so schwer. Die Natur kommt immer zu ihrem Recht.«
    Tom ließ den Kopf sinken. Sein Gewicht zog ihn nach unten. Er konnte sich nicht mehr halten. Er würde loslassen müssen. Sein Blick ging über die Lokomotive hinweg nach vorn, über die Felsen und die Felder und Bäume und den mächtigen braunen Fluss, der sich träge unter einem stahlblauen Himmel dahinwand.
    Bleiben Sie gut, Thomas. Bleiben Sie gerecht.
    Vor ihm lag die Kuppe
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