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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte
Autoren: Ralf Isau
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Menschen ticken. Du wirst sehen, der heutige Tag war ein Erfolg. Bald wählen wir unsere Figuren aus, und dann können wir sie endlich aufstellen.«

    Auf Deer Island lag Schnee. Große Eisschollen trieben vom nahen Ontariosee den Sankt-Lorenz-Strom hinab. Obwohl die Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt lagen, war es im Vergleich zu früheren Wintern geradezu mild. Auch hier, in der Gegend der Thousand Islands zwischen Kanada und dem US-Bundesstaat New York, redete man neuerdings häufiger über die globale Erwärmung. Nur nicht in dem Landhaus am Ostufer von besagter Insel.
    Emil W. Kogan hatte eine handverlesene Schar von Studenten des CSAIL hierher, etwa drei Kilometer nördlich der Alexandria Bay, zu einem »Seminar zwischen den Jahren«
    geladen. Acht junge Männer und drei Frauen, ausnahmslos idealistische Computerspezialisten und »ethische Hacker«, waren seinem Ruf in die Wildnis gefolgt.
    Schon in Cambridge hatte er die von Karim und Justin zusammengetrommelten Kandidaten gesiebt. Einige weitere sprangen ab, als sie den Termin der Veranstaltung mitgeteilt bekamen. Es erschien ihnen reizvoller, mit der Familie unterm Weihnachtsbaum Geschenke zu tauschen und zum Jahreswechsel mit Böllern zu knallen, als sich zu einer außerordentlichen Büffelrunde auf einer Insel internieren zu lassen, von der man weder über eine Brücke noch mit einer Fähre fliehen konnte.
    Das Cottage – es diente in der wärmeren Jahreszeit einer gewissen Russel Trust Association als Klubhaus – war eine Mischung aus Stein und Holz, dessen rustikales Interieur das Gefühl gemütlicher Urtümlichkeit vermittelte. Alles wirkte ein wenig antiquiert und abgenutzt. Die Haupthalle war angefüllt mit einer kuriosen Sammlung von Erinnerungsstücken aus aller Herren Länder. Sieben der insgesamt fünfzehn Gästezimmer blickten auf den Fluss hinaus, weshalb bei der Ankunft der Gruppe zunächst das Gerangel um das beste Quartier ausbrach. Unzufrieden mit seiner Unterbringung war am Ende aber keiner.
    Auch für das leibliche Wohl der Seminaristen war gesorgt.
    Kogan hatte eigens einen Koch einfliegen lassen. Gleichwohl wusste er, dass ihnen der Veranstaltungsort ob seiner Abgeschiedenheit wie eine Gefängnisinsel mit Beschäftigungsprogramm erscheinen musste. Mit dem ihm eigenen Sinn für Humor sagte er gleich in seiner Begrüßungsansprache am 24. Dezember: »Das hier ist nicht Alcatraz. Es ist viel schlimmer. Ich möchte ganz besonders JJ danken, die mit ihren vorzüglichen Kontakten zu einigen einflussreichen Yale-Absolventen das Arrangement für die exklusive Nutzung dieses entlegenen Ortes getroffen hat.«
    Anschließend ging er auf den Zweck der Übung ein. »Wir werden in den nächsten neun Tagen ›die Gruppe‹ sieben. Die Gruppe, das sind Sie, meine Damen und Herren, oder das, was am Ende davon übrig bleibt. Nur die Besten von Ihnen werden an dem Experiment teilnehmen. Drei oder vier, mehr nicht. Strengen Sie sich also an. Wir singen hier keine Weihnachtslieder. Sie werden einige interessante Dinge lernen, aber vor allem werden Sie zeigen können, was in Ihnen steckt. Tun Sie es nicht, fliegen Sie raus.«
    Worum es bei dem »Experiment« ging, sagte er nicht. Alles war top secret. Schon für die Teilnahme an dem Kurs mussten alle Kandidaten ein NSA-Formular unterschreiben, dessen Text ihnen das Gefühl vermittelte, sich eines Kapitalverbrechens schuldig zu machen, sollten sie jemals in Redseligkeit verfallen. Auch stimmten die Unterzeichnenden zu, sich während der Veranstaltung filmen zu lassen, damit ihr Verhalten unter Stress für die Erstellung eines psychologischen Profils herangezogen werden könne.
    Der Verlauf des neuntägigen Auswahlverfahrens war dann für manche eine Überraschung. Sie hatten damit gerechnet, einen Haufen neuer Hackertricks zu lernen, doch Kogan war kein Crack im Überwinden der Sicherheitseinrichtungen von Computern und Kommunikationsnetzen, sondern ein Meister des Social Engineering. Der technische Kram, hatte er JJ einmal erklärt, sei für ihn nur Mittel zum Zweck. Dafür gebe es hungrige junge Spezialisten, die ihren Job hundertmal besser machten als er.
    Auf dem Stundenplan standen ganz andere Themen. Es begann beim »guten, alten Phreaking«, dem illegalen Manipulieren von Telefonsystemen, indem man sich bei den Telefongesellschaften als Systemadministrator ausgab und um neue Passwörter bat. Obwohl die Methode inzwischen ein alter Hut sei, könne man dadurch eine Menge über die Spielregeln
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