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Der Mann, der den Zügen nachsah

Der Mann, der den Zügen nachsah

Titel: Der Mann, der den Zügen nachsah
Autoren: Georges Simenon
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zu müssen, denn er bekam weder Messer noch Gabel.
      Aber was konnte ihm das schon ausmachen? Es war eher amüsant! Sie alle hielten ihn für verrückt!
    Unheimlich hingegen waren gewisse Schreie des Nachts in anderen Zimmern, jedesmal gefolgt von wirrem Lärm. Aber er, er schrie niemals. So idiotisch war er nicht.
      Der Arzt war ungefähr in seinem Alter, und auch er trug graue Anzüge und eine goldgeränderte Brille. Er kam jeden Tag einmal, rund und herzlich.
      »Nun, mein Freund, eine gute Nacht gehabt? Immer noch diese Depressionen? Sie werden sehen, Sie schaffen das! Sie haben eine fabelhafte Gesundheit und Sie werden leicht damit fertig werden. Lassen Sie mal Ihren Puls fühlen…«
    Popinga hielt brav die Hand hin.
      »Ausgezeichnet! Ausgezeichnet!… Immer noch etwas widerspenstig, aber das geht vorbei. Ich habe andere Fälle…«
      Schließlich gab es auch im Besuchszimmer in Gegenwart eines Krankenwärters den Besuch von Frau Popinga. In Paris hatte sie nicht viel sagen können, weil sie in Tränen ausgebrochen und dann ohnmächtig geworden war. Aber hier hatte sie wohl vorher ihre Kräfte mobilisiert.
      Sie hatte ein Kleid an, das sie früher trug, wenn sie die Babywäsche in Ordnung brachte, ein dunkles, ganz schlichtes Kleid ohne Ausschnitt.
    »Hörst du mich, Kees? Kann ich zu dir sprechen?«
      Er nickte, mehr aus Mitleid mit ihr als aus anderen Gründen.
      »Ich werde dich nur an jedem ersten Dienstag im Monat besuchen können… Vor allem sag mir, ob es dir an irgend etwas fehlt…«
    Er bewegte verneinend den Kopf.
    »Du bist sehr unglücklich, nicht wahr?… Aber wir sind es auch… Ich weiß nicht, ob du verstehst, ob du dir alles vorstellen kannst, was inzwischen passiert ist… Ich bin zuerst einmal nach Amsterdam gefahren und habe eine Stellung in der Biskuit-Fabrik von de Jonghe gefunden… Ich verdiene nicht viel, aber ich bin gut angesehen…«
      Er verkniff sich ein Lächeln bei dem Gedanken, daß es bei der Keksfabrik de Jonghe ebenfalls bunte Bildchen zum Einkleben gab, das Hobby von Mama!
      »Ich habe Frida aus der Schule genommen, und sie hat nicht mal geweint. Jetzt lernt sie Stenographie, und die Firma de Jonghe wird sie einstellen, sobald sie das Diplom hat. Du antwortest gar nicht, Kees!«
    »Ich finde das alles sehr gut.«
      Jetzt, als sie seine Stimme hörte, weinte sie, in kleinen Schluchzern, wobei sie ihre gerötete Nase mit dem Taschentuch abtupfte.
      »Bei Carl weiß ich noch nicht, was ich tun soll; er möchte auf die Schule für Navigation in Delfzijl gehen. Vielleicht kann ich ein Stipendium für ihn bekommen.«
      So also arrangierte man sich! Sie kam weiter jeden ersten Dienstag im Monat. Sie sprach nie von dem, was vergangen war. Sie sagte:
      »Carl hat das Stipendium bekommen, durch deinen alten Freund de Greef. Er war sehr freundlich…«
    Oder auch:
      »Wir haben die Wohnung gewechselt, weil die unsere zu teuer war. Wir sind jetzt bei einer sehr vornehmen Dame untergekommen, einer Offizierswitwe, die ein Zimmer zuviel hatte und…«
      Fabelhaft, nicht wahr? Er schlief viel. Machte seine Freiübungen und seinen Spaziergang im Hof. Der Doktor, dessen Namen er nicht einmal wußte, interessierte sich für ihn.
    »Gibt es etwas, das Ihnen Freude machen würde?« fragte er ihn eines Tages.
      Und obwohl es dazu noch zu früh war, antwortete Popinga:
    »Ein Schreibheft und einen Bleistift.«
      Ja, es war noch zu früh, und das zeigte sich schon darin, daß er auf die erste Seite des Heftes feierlich mit großen Buchstaben schrieb: Di e Wahrheit über den Fall Kees Popinga.
      Er hatte eine Menge Ideen zu dem Thema. Er nahm sich vor, das ganze Heft vollzuschreiben und noch weitere Hefte zu verlangen, um am Ende eine vollständige authentische Studie über seinen Fall zu hinterlassen.
      Er hatte genügend Zeit zum Nachdenken gehabt. Am ersten Tag schmückte er nur den Titel mit Arabesken aus, wie die Buchtitel aus der Zeit der Romantik. Dann legte er das Heft unter seine Matratze, und am folgenden Tag betrachtete er es lange, legte es dann aber wieder an seinen Platz.
      Er konnte die Zeit nur nach den ersten Dienstagen im Monat berechnen, denn es gab keinen Kalender in seinem Zimmer.
      »Wie denkst du darüber, Kees? Man bietet Frida eine Stellung bei einem Journalisten an, und ich frage mich, ob…«
    Allerdings! Das fragte er sich auch. Aber warum nicht?
    »Sie braucht nur anzunehmen.«
    »Glaubst du?«
    War das
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