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Der Mann, der den Zügen nachsah

Der Mann, der den Zügen nachsah

Titel: Der Mann, der den Zügen nachsah
Autoren: Georges Simenon
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sah die Autowerkstatt von Goin und Boret und sah Licht im ersten Stock. Ob man etwa Goin auch freigelassen hatte? Das war unwahrscheinlich. Die Zeitungen hätten darüber berichtet. Andererseits, wenn Goin dagewesen wäre, hätte Licht in der Werkstatt gebrannt.
      Nein! Zweifellos hatte man Rose provisorisch in Freiheit gesetzt. Dieser Gedanke hätte beinahe alles zunichte gemacht, denn Popinga mußte dem Wunsch widerstehen, einzutreten, ihr Angst einzujagen und vielleicht…
      Nur, daß in dem Falle nichts mehr galt, weder sein Brief noch alles übrige! Und ebenso durfte er nicht in das Bistro gehen, wo er an dem Groschenautomaten gespielt hatte und wo er hinter beschlagenen Scheiben Männer in Eisenbahnerkleidung sah.
      Vielleicht war es falsch gewesen, etwas zu essen. Wenig zwar, doch immerhin lag es ihm auf. Er ging durch menschenleere Straßen und über einen Gleisübergang bis hinter den Bahnhof, und dort sah er von ferne das erleuchtete Fenster, das seins gewesen war und durch das er aus der Werkstatt geflohen war.
    Wenn er sich nicht beeilte, riskierte er, den Mut zu verlieren. Die Zeit spielte keine Rolle, wenn es erst einmal dunkel war. Vor allem kam es darauf an, die Seine zu finden, und Popinga stellte fest, daß er sich von der Gegend eine falsche Vorstellung gemacht hatte, denn so weit er auch an den Bahngleisen entlangging, sah er immer noch nichts von dem Fluß.
      Er ging quer durch unbebautes Gelände, durch Gemüsegärtchen, durch alte Kiesgruben, wo er beinahe in einen Wassergraben gefallen wäre. Vielleicht lag es an seiner Müdigkeit, daß ihm der Weg so lang vorkam? Nein, denn an den Lichterketten der Siedlung oder des Verschiebebahnhofs konnte er die zurückgelegte Strecke ermessen.
      Züge fuhren vorüber. Er zuckte zusammen und blickte nach der anderen Seite, dann murmelte er leise:
    »Was ist schon dabei, nicht wahr?«
      Dann trocknete er sich das Gesicht unter dem Vorwand, daß es regnete, aber er wußte sehr wohl, daß es salzige Tropfen waren, die ihm bis in die Mundwinkel rannen.
      Er begegnete einem zweirädrigen Wagen, vor dem ein Pferd in leichtem Trab ging. Von ferne sah man nur eine Laterne, aber aus der Nähe erkannte man zwei menschliche Wesen, einen Mann und eine Frau, die unter einem Verdeck dicht beieinander saßen, und er glaubte die Hitze der aneinandergeschmiegten Leiber zu spüren.
    »Will nichts besagen, nicht wahr?«
      Und doch, er hätte sich für sechzig Francs als Clochard verkleiden können! Endlich entdeckte er die Seine, nicht weit von einer Brücke, über die die Bahngleise hinüberführten. Er hatte den Eindruck, mehrere Kilometer gegangen zu sein.
      Seine Uhr war wieder einmal stehengeblieben. Eine schlechte Uhr, was aber jetzt keine Bedeutung mehr hatte.
    Zu wissen, daß er die Bedeutung des Wortes Paranoiker
    nicht genau kannte!
      Es war kalt. Wieder so eine Gemeinheit des Schicksals! Und er sah sich genötigt, seine Schuhe auszuziehen, weil sie eine Fabrikmarke aus Groningen trugen, und sogar seine Socken, denn die hätte seine Frau wiedererkennen können. Er tat das auf einer mit stacheligen Sträuchern bewachsenen Böschung. Dann zog er sein Jackett aus, seine Weste, seine Hose, und fröstelte.
      Nur sein Hemd konnte er anbehalten, weil das in Paris gekauft war, aber das kam ihm lächerlich vor und er zog es ebenfalls aus.
      Danach zog er seinen Mantel über und blieb so eine ganze Weile unbeweglich in Betrachtung des Wassers, das nur wenige Meter entfernt dahinfloß.
      Es war wirklich sehr kalt, zumal er mit seinen nackten Füßen in einer Wasserlache stand! Es war besser, schnell zu machen, da es ja doch einmal sein mußte, und mit ungeschickt tapsenden Schritten ging er an den Fluß und warf seine Kleidungsstücke hinein.
      Danach erklomm er wieder die Böschung, wobei seine Lippen zitterten, und als er jetzt an die Gleise kam, nicht weit von einer grünen Signallampe, deren Zweck ihm unbekannt war, ereignete sich etwas Außergewöhnliches.
      Während er bis dahin von einer Art innerem Fieber getrieben worden war, wurde er jetzt plötzlich ganz ruhig, von einer Ruhe, wie er sie ähnlich noch nie empfunden hatte.
      Und im selben Moment blickte er um sich und fragte sich, was er da machte, ganz nackt unter seinem blauen Mantel, von Schwelle zu Schwelle balancierend, um sich an dem Schotter nicht die Füße zu verletzen.
    Seine Haare waren naß, sein Gesicht war naß. Er schlotterte und blickte mit Bestürzung
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