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Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Titel: Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
Autoren: Ken Follett
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Hauses und erhielt durch drei große Fenster stets genügend Licht. Die ledernen Polstersessel waren alt, aber überraschend bequem. Im Winter brannte den ganzen Tag über das Kaminfeuer, es gab Spiele, Puzzles und zwei-oder dreitausend Bücher. Einige Bände stammten noch aus der Zeit vor der Errichtung des Hauses, aber viele waren neu, denn Mama las Romane, und Papa war vielseitig interessiert: an Chemie, Landwirtschaft, Reisen, Astronomie und Geschichte. Charlotte liebte es besonders, an Maryas freiem Tag hierherzukommen, denn dann konnte die Gouvernante ihr nicht einen spannenden Roman wegnehmen und durch ein Kinderbuch ersetzen. Manchmal begleitete Papa sie in die Bibliothek. Er saß dann an dem hohen viktorianischen Schreibtisch und las einen Katalog für landwirtschaftliche Maschinen oder den Bilanzbericht einer amerikanischen Eisenbahngesellschaft und mischte sich nie in die Wahl ihrer Lektüre ein.
    Jetzt war sie allein hier. Charlotte ging geradewegs auf den Schreibtisch zu, öffnete eine kleine Schublade und nahm einen Schlüssel heraus.
    An der Wand neben dem Schreibtisch standen drei Schränke. Einer enthielt Spiele in Schachteln, der zweite Briefpapier und Umschläge mit dem Wappen der Waidens. Der dritte war verschlossen. Charlotte öffnete ihn mit dem Schlüssel.
    Sie fand zwanzig bis dreißig Bücher und einen Stapel alter Zeitschriften. Charlotte blätterte eine der Zeitschriften durch. Sie hieß The Pearl. Nicht sehr vielversprechend. Hastig nahm sie zwei Bücher heraus, ohne sich die Titel anzusehen. Dann verschloß sie den Schrank wieder und legte den Schlüssel in die Schublade zurück.
    »Da!« sagte sie triumphierend.
    »Wo können wir sie uns anschauen?« fragte Belinda flüsternd. »Erinnerst du dich an das Versteck?«
    »Ach ja, natürlich!«
    »Warum flüstern wir eigentlich?«
    Sie kicherten.
    Charlotte ging an die Tür. Plötzlich hörte sie eine Stimme in der Halle: »Lady Charlotte … Lady Charlotte …«
    »Es ist Annie, sie sucht uns«, sagte Charlotte. »Sie ist nett, aber furchtbar dumm. Komm, wir gehen an der anderen Seite hinaus.« Sie durchquerte die Bibliothek und öffnete die Tür, die ins Billardzimmer führte, von dem aus man wiederum ins Waffenzimmer gelangte. Aber es war jemand im Waffenzimmer. Sie lauschte einen Augenblick.
    »Es ist Papa«, flüsterte Belinda ängstlich. »Er war auf der Kaninchenjagd.«
    Zum Glück führte eine Fenstertür vom Billardzimmer auf die westliche Terrasse. Charlotte und Belinda schlichen sich hinaus und schlossen die Tür lautlos hinter sich. Die Sonne war tief und rot und warf lange Schatten über die Rasenflächen.
    »Und wie kommen wir wieder hinein?« fragte Belinda.
    »Über die Dächer. Folge mir!«
    Charlotte rannte hinten um das Haus herum, durch den Küchengarten auf die Stallungen zu. Sie stopfte die beiden Bücher unter ihr Kleid und schnürte den Gürtel enger, damit sie nicht herausfielen. Aus einem Winkel des Hofes, der von den Stallungen umgeben war, konnte man leicht auf das Dach über dem Dienstbotenquartier gelangen. Zuerst stellte Charlotte sich auf den Deckel eines Eisenbehälters, der zum Aufbewahren von Holzscheiten diente. Dann kletterte sie auf das Wellblechdach eines Werkzeugschuppens, eines Vorbaus der Waschküche, und von dort stieg sie auf deren Schieferdach. Sie blickte sich um: Belinda folgte ihr.
    Jetzt kroch Charlotte bäuchlings über die Schieferplatten, hielt sich mit den Händen und den seitwärts gespreizten Füßen fest, bis sie an eine Wand kam. Vorsichtig kletterte sie auf das Hausdach und balancierte über den First.
    Über ihnen erhob sich das Fenster einer Dachkammer, in der zwei Dienstmädchen untergebracht waren. Es reichte bis zum Giebel, wo das Dach nach beiden Seiten abfiel. Charlotte reckte sich und warf einen Blick in das Zimmer. Niemand war da. Sie wuchtete sich bis zum Sims hoch.
    Dann beugte sie sich nach links, griff mit dem Arm über den Dachfirst, ließ das Bein folgen, zog sich hinauf und half schließlich Belinda.
    Sie blieben eine Weile liegen und schöpften Atem. Charlotte erinnerte sich, daß man ihr einmal erzählt hatte, Waiden Hall habe eine Dachoberfläche von sechzehntausend Quadratmetern. Schwer zu glauben bei diesem Wirrwarr von Türmchen und Firsten. Von ihrem Standort aus war es möglich, jeden Teil des Daches über schmale Fußpfade, Leitern und Tunnels zu erreichen, die auch die Arbeiter benutzten, wenn sie im Frühjahr kamen, um die Regenrinnen zu säubern, die Rohre
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