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Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Titel: Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
Autoren: Ken Follett
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Regierungsform geändert.
    Der Zug fuhr ab, und wenige Minuten später sah Felix die Sonne über den Obstgärten und Hopfenfeldern von Kent aufgehen. Es erstaunte ihn immer wieder, wie schön Europa war. Als er es zum erstenmal gesehen hatte, war es ein Schock für ihn gewesen, denn wie jeder andere russische Bauer hatte er sich nicht vorstellen können, daß es eine solche Welt gab. Auch damals hatte er in einem Eisenbahnabteil gesessen. Nach einer langen Fahrt durch die dünn bevölkerten nordwestlichen Provinzen Rußlands mit ihren verkümmerten Bäumen, den elenden, im Schnee begrabenen Dörfern und den sich windenden Sandstraßen war er eines Morgens in Deutschland aufgewacht. Die sauberen grünen Felder, die gepflasterten Straßen, die schmucken Häuser in den Dörfern und die Blumenbeete auf den Bahnsteigen – das alles war ihm wie ein Paradies erschienen. Später, in der Schweiz, hatte er auf der Veranda eines kleinen Hotels gesessen, warm in der Sonne und doch in Blickweite der schneebedeckten Berge, hatte Kaffee getrunken, ein frisches, knuspriges Brötchen gegessen und sich gedacht: Hier müssen die Menschen wirklich glücklich sein.
    Jetzt, zur frühen Morgenstunde, als er die zum Leben erwachenden englischen Farmhäuser betrachtete, erinnerte er sich an das Morgengrauen in seinem Heimatdorf: Bleigrauer Himmel voller Wolken, bitterkalter Wind, ein gefrorenes sumpfiges Feld mit Eispfützen und reifüberzogenen Grasbüscheln. Er sah sich in seinem abgetragenen Kittel aus Zeltleinwand, die Füße in Filzschuhen mit Holzsohlen, und seinen Vater, der die armselige Robe eines Landpopen trug und ihm immer wieder erklärte, Gott sei gut. Sein Vater hatte das russische Volk geliebt, weil Gott es liebte. Aber für Felix war es immer klar gewesen, daß Gott dieses Volk hassen mußte, da er es einem so grausamen Schicksal überließ.
    Diese Diskussionen waren der Beginn einer langen Reise gewesen, einer Odyssee, die Felix vom Christentum über den Sozialismus bis zum anarchistischen Terror geführt hatte, von der Provinz Tambow über St. Petersburg und Sibirien bis nach Genf. Und in Genf hatte er den Entschluß gefaßt, der ihn jetzt nach England brachte. Er erinnerte sich an die Sitzung. Fast hätte er sie verfehlt.

    Fast hätte er die Sitzung verfehlt. Er war in Krakau gewesen, um mit den polnischen Juden zu verhandeln, die die Zeitschrift Meuterei über die Grenze nach Rußland schmuggelten. Erst am späten Abend war er nach Genf zurückgekehrt und hatte sich dort direkt in Ulrichs kleine Hinterhofdruckerei begeben. Das Redaktionskomitee hielt gerade eine Sitzung ab. Vier Männer und zwei junge Frauen hatten sich im Hinterzimmer um eine Kerze versammelt und planten die russische Revolution. Das Zimmer roch stark nach Druckerschwärze und Maschinenöl.
    Ulrich weihte ihn kurz in den bisherigen Verlauf der Diskussion ein. Er hatte sich mit Josef getroffen, einem Spitzel der Ochrana, der russischen Geheimpolizei. Josef sympathisierte insgeheim mit den Revolutionären und lieferte der Ochrana für ihr Geld falsche Informationen. Manchmal gaben ihm die Anarchisten ein paar zutreffende, aber harmlose Hinweise, und dafür warnte Josef sie, wenn die Ochrana etwas gegen sie plante.
    Dieses Mal war Josef mit einer sensationellen Meldung gekommen. »Der Zar wünscht ein Militärbündnis mit England«, erzählte Ulrich Felix aufgeregt. »Er schickt den Fürsten Orlow nach London zu Verhandlungen. Die Ochrana weiß darüber Bescheid, denn sie muß ja den Fürsten auf seiner Europareise bewachen.«
    Felix nahm seinen Hut ab und setzte sich. Er fragte sich, ob das wirklich stimmte. Eine der jungen Frauen, eine traurig dreinblickende, unscheinbare Russin, brachte ihm Tee in einem Glas. Felix zog einen halbzerkauten Zuckerwürfel aus der Tasche, schob ihn sich zwischen die Zähne und schlürfte den Tee auf Bauernart durch den Zucker.
    »Es geht England vor allem darum«, fuhr Ulrich fort, »einen Krieg gegen Deutschland zu führen und die Russen für sich kämpfen zu lassen.«
    Felix nickte.
    Die junge Frau sagte: »Und in diesem Krieg werden nicht die Fürsten und Grafen umkommen … sondern die Männer aus dem Volk.«
    Sie hat recht, überlegte Felix. Die Bauern würden in diesem Krieg kämpfen müssen. Er hatte den größten Teil seines Lebens unter diesen Menschen verbracht. Sie waren hart, grob und starrköpfig, aber ihre närrische Großzügigkeit und ihre gelegentlichen spontanen Ausbrüche unbändiger Fröhlichkeit gaben
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