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Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Titel: Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
Autoren: Ken Follett
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heraufbeschwört.«
    Sie schwiegen eine Weile. Manchmal wünschte sich Charlotte, so passiv wie Belinda zu sein. Das Leben wäre einfacher – aber es wäre auch langweilig. »Ich habe Marya gefragt, was ich tun soll, wenn ich einmal verheiratet bin«, fuhr sie fort. »Und weißt du, was sie geantwortet hat?« Sie imitierte den kehligen russischen Akzent ihrer Gouvernante. »Aber, mein Kind, dann hast du überhaupt nichts zu tun.«
    »Eine stupide Antwort«, meinte Belinda.
    »Wirklich? Was tun denn unsere Mütter?«
    »Sie gehören zur guten Gesellschaft. Sie veranstalten Partys, leben in ihren Landhäusern, gehen in die Oper und …«
    »Das meine ich ja. Sie tun überhaupt nichts.«
    »Sie kriegen Kinder.«
    »Das ist auch wieder so etwas. Sie machen ein solches Geheimnis aus dem Kinderkriegen.«
    »Aber doch nur, weil es … ordinär ist.«
    »Warum? Was ist denn ordinär daran?« Charlotte fühlte wieder den Enthusiasmus in sich aufsteigen. Marya ermahnte sie immer wieder, nicht zu überschwenglich zu sein. Sie atmete tief durch und sagte mit leiser Stimme: »Du und ich, wir müssen auch einmal Kinder kriegen. Findest du nicht, daß man uns ein bißchen erklären sollte, wie man das macht? Aber sie wollen ja nur, daß wir über Mozart und Shakespeare und Leonardo da Vinci Bescheid wissen.«
    Belinda blickte peinlich berührt, aber sehr interessiert drein. Sie fühlt das gleiche wie ich, dachte Charlotte. Wieviel sie wohl weiß? Charlotte sagte: »Ist dir klar, daß sie in deinem Bauch wachsen?« Belinda nickte, und dann platzte sie heraus: »Aber wie fängt es an?«
    »Ach, ich glaube, es passiert einfach, wenn man ungefähr einundzwanzig ist. Das ist der eigentliche Grund, weshalb wir unser Debüt machen müssen! Man will uns in die Gesellschaft einführen, damit wir einen Mann haben, bevor wir Kinder kriegen.« Charlotte zögerte. »Das glaube ich wenigstens«, fügte sie hinzu.
    Belinda fragte: »Und wie kommen sie heraus?«
    »Das weiß ich nicht. Wie groß sind sie denn?«
    Belinda hielt die Hände etwa sechzig Zentimeter auseinander. »Die Zwillinge waren einen Tag nach der Geburt so groß.« Sie dachte noch einmal nach und verkleinerte die Distanz. »Vielleicht eher so.« Charlotte sagte: »Wenn eine Henne ein Ei legt, kommt es … hinten heraus.« Sie vermied Belindas Blick. Ein so intimes Gespräch hatte sie bisher mit niemandem geführt. »Das Ei scheint zwar zu groß dafür, aber es kommt heraus.«
    Belinda rückte dichter an sie heran und sagte leise: »Ich habe einmal Daisy kalben gesehen. Das ist die Jersey-Kuh auf unserem Gut. Die Männer wußten nicht, daß ich zusah. Sie nennen es einfach ›kalben‹.«
    Charlotte war fasziniert. »Was geschah?«
    »Es war scheußlich. Es sah aus, als ob ihr Bauch sich öffnete, und es gab eine Menge Blut und solche Sachen.« Sie erschauderte.
    »Das macht mir Angst«, sagte Charlotte. »Ich fürchte, es wird mir passieren, bevor ich alles darüber weiß. Warum erklärt man es uns nicht?«
    »Wir sollten über solche Dinge nicht reden.«
    »Wir haben das verdammte Recht, darüber zu reden!«
    Belinda blickte sie entsetzt an. »Das Fluchen macht es noch schlimmer!«
    »Das ist mir egal.« Charlotte war wütend, daß es keine Möglichkeit gab, mehr darüber zu erfahren. Niemanden, den man fragen konnte, kein Buch, das Aufschluß gab … Plötzlich hatte sie eine Idee. »In der Bibliothek ist ein verschlossener Schrank – ich wette, daß wir dort Bücher über dieses Thema finden.«
    »Aber wenn er verschlossen ist …?«
    »Ich weiß, wo der Schlüssel ist. Ich weiß es seit Jahren.«
    »Wir bekommen aber eine Strafe, wenn man uns erwischt.«
    »Jetzt ziehen sich alle zum Abendessen um. Das ist unsere Chance.« Charlotte stand auf.
    Belinda zögerte. »Es wird Ärger geben.«
    »Ist mir egal. Ich werde mir den Schrank jedenfalls näher ansehen, und du kannst mitkommen, wenn du willst.«
    Charlotte drehte sich um und ging auf das Haus zu. Einen Augenblick später rannte Belinda ihr nach, genau wie Charlotte vorausgesehen hatte.
    Sie gingen durch den Säulenhof und betraten die kühle große Halle. Von dort ging es nach links am Morgenzimmer und dem achteckigen Zimmer vorbei, und dann kamen sie in die Bibliothek. Charlotte redete sich ein, sie sei jetzt eine Frau und habe das Recht, »es« zu wissen, aber gleichzeitig fühlte sie sich auch ein wenig wie ein ungezogenes kleines Mädchen.
    Die Bibliothek war ihr Lieblingszimmer. Sie befand sich an der Ecke des
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