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Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Titel: Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
Autoren: Ken Follett
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Recht, den Buckingham Palast bei großen Anlässen durch das Gartentor zu betreten, anstatt mit zweihundert anderen Wagen auf der Mall warten zu müssen.
    Sie dachte an ihre Gäste an diesem Wochenende. George, Stephens jüngerer Bruder, hatte Stephens Charme, aber nichts von dessen Ernsthaftigkeit. Georges Tochter Belinda war achtzehn, im gleichen Alter wie Charlotte. Die beiden Mädchen sollten in dieser Saison ihr Debüt geben. Belindas Mutter war vor einigen Jahren gestorben, und George hatte sich ziemlich rasch wieder verheiratet. Seine zweite Frau, Clarissa, war viel jünger als er und von sehr lebhaftem Temperament. Sie hatte ihm Zwillingssöhne geschenkt. Einer der Zwillinge würde Waiden Hall erben, wenn Stephen starb – vorausgesetzt, Lydia bekam in ihren späten Jahren nicht noch einen Sohn. Ich könnte es, sinnierte sie, ich fühle, daß ich es könnte, aber es geschieht einfach nicht.
    Es war fast Zeit, sich zum Abendessen umzuziehen. Sie seufzte. Sie fühlte sich so behaglich in ihrem Teekleid und mit dem locker gekämmten blonden Haar, aber jetzt mußte sie sich in ein Korsett zwängen und sich von einer Zofe das Haar zu einer Turmfrisur richten lassen. Man munkelte, daß einige junge Frauen das Tragen von Korsetts völlig aufgegeben hätten. Lydia fand das angängig, solange man eine Figur wie eine Acht hatte, aber eine solche Figur hatte sie nun einmal nicht.
    Sie stand auf und ging hinaus. Der Gärtnergehilfe stand an einem Rosenbaum und plauderte mit einer der Zofen. Lydia erkannte das Mädchen: Es war Annie, ein hübsches, üppiges, hohlköpfiges Ding mit einem breiten, einladenden Lächeln. Sie hatte ihre Hände in den Schürzentaschen vergraben, wandte das runde Gesicht der Sonne zu und lachte über etwas, was der Gärtner zu ihr gesagt hatte. Dieses Mädchen braucht bestimmt kein Korsett, dachte Lydia. Annie war beauftragt, auf Charlotte und Belinda aufzupassen, denn die Gouvernante hatte ihren freien Nachmittag. Lydia rief ihr zu: »Annie! Wo sind die jungen Damen?«
    Annies Lächeln verschwand, und sie machte einen Knicks. »Ich kann sie nicht finden, gnädige Frau.«
    Der Gärtner verzog sich eiligst.
    »Dann suchen Sie sie gefälligst«, sagte Lydia, »anstatt hier herumzustehen.«
    »Jawohl, gnädige Frau.« Annie rannte hinter das Haus. Lydia seufzte. Dort waren die Mädchen bestimmt nicht, aber sie hatte keine Lust, Annie zurückzurufen und noch einmal zu tadeln.
    Sie schlenderte über den Rasen, dachte an vertraute und angenehme Dinge, verdrängte St. Petersburg aus ihren Gedanken. Stephens Vater, der siebte Earl of Waiden, hatte die Westseite des Parks mit Rhododendron und Azaleen bepflanzen lassen. Lydia hatte den alten Herrn nicht kennengelernt; er war gestorben, bevor sie Stephen begegnet war, aber nach allem, was sie über ihn gehört hatte, war er ein klassischer Viktorianer gewesen. Seine Büsche standen jetzt in voller Blüte, erstrahlten in einer ziemlich unviktorianischen Farbenpracht. Wir müßten das Haus einmal malen lassen, fiel ihr ein. Das letzte Bild stammt aus einer Zeit, in der der Park noch nicht voll ausgewachsen war.
    Sie blickte auf Waiden Hall zurück. Das graue Mauerwerk der Südfassade wirkte im Nachmittagssonnenlicht erhaben. In ihrer Mitte befand sich das südliche Tor. Der weiter nach hinten gelegene östliche Flügel enthielt den Salon und die verschiedenen Speisezimmer, daran anschließend begann ein Labyrinth von Küchen, Anrichtezimmern und Waschzimmern, die sich bis zu den Ställen hinzogen. Ihr näher, auf der westlichen Seite, lagen das Morgenzimmer, das achteckige Zimmer, an der Ecke die Bibliothek, dann, jenseits der Ecke, das Billardzimmer, das Waffenzimmer, ihr Blumenzimmer, ein Rauchzimmer und das Büro der Gutsverwaltung. Im ersten Stock gingen die Familienschlafzimmer nach Süden hinaus, die Gästezimmer nach Westen und das Dienstbotenquartier, oberhalb der Küchen, wo man es nicht sah, nach Nordosten. Über dem ersten Stock erhob sich ein seltsames Durcheinander von Türmen, Zinnen und Giebeln. Die ganze Fassade war von Steinornamenten im viktorianischen Rokokostil übersät, mit gemeißelten Blumen, Sparren und Schleifen, mit Schnüren, Drachen, Löwen und Engelchen, Baikonen, Schießscharten, Flaggenmasten, Sonnenuhren und Wasserspeiern. Lydia liebte diesen Ort, und sie war dem Himmel dankbar, daß Stephen – im Gegensatz zu vielen anderen adligen Landbesitzern – sich seinen Unterhalt leisten konnte.
    Sie sah Charlotte und Belinda aus
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