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Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Titel: Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
Autoren: Ken Follett
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entfernte sich. Lydia setzte sich und atmete die kühle, duftende Luft. Das Zimmer eignete sich gut zur Erholung von einem Schock, und das Gespräch über St. Petersburg war ein Schock für sie gewesen. Sie erinnerte sich an Alexeij Andreijewitsch, wie er als kleiner schüchterner Junge an ihrer Hochzeit teilgenommen hatte, und sie erinnerte sich, daß dieser Tag der unglücklichste in ihrem bisherigen Leben gewesen war.
    Plötzlich empfand sie es als unpassend, daß sie das Blumenzimmer zu ihrer Zufluchtsstätte gemacht hatte. Dieses Haus hatte Zimmer für fast jeden Zweck: Verschiedene für das Frühstück, den Lunch, den Tee und das Abendessen, ein Billardzimmer, ein Waffenzimmer, besondere Räume für das Waschen von Kleidern, das Bügeln, das Kochen von Marmelade, das Putzen von Silber, das Aufhängen von Wildbret, das Aufbewahren von Wein, das Ausbürsten von Anzügen . Ihre eigene Suite bestand aus Schlafzimmer, Ankleidezimmer und Wohnzimmer. Aber wenn sie ungestört sein wollte, kam sie immer hierher, setzte sich auf einen harten Stuhl und schaute auf die steinerne Abflußrinne und die schmiedeeisernen Beine des Marmortischs. Ihr Mann hatte, wie sie wußte, auch seine geheime Zufluchtsstätte, denn wenn Stephen sich über etwas ärgerte, ging er stets ins Waffenzimmer und las dort in einem Buch über das Jagdwild.
    Alex würde also während der Saison ihr Gast in London sein. Sie würden sich über ihre Heimat unterhalten, über den Schnee und das Ballett und die Bomben, und sein Anblick würde sie an einen anderen jungen Russen erinnern, den Mann, den sie nicht geheiratet hatte.
    Es war nun schon neunzehn Jahre her, seit sie ihn zum letztenmal gesehen hatte, aber immer noch brachte die bloße Erwähnung von St. Petersburg ihn in ihr Gedächtnis zurück, und jedesmal fühlte sie ihre Haut unter der Seide des Kleides prickeln. Er war neunzehn Jahre alt gewesen, etwas älter als sie, ein »verhungerter« Student mit langen schwarzen Haaren, dem Gesicht eines Wolfs und den Augen eines Spaniels. Sie hatte seine weiße Haut geliebt, sein dunkles, flaumiges Körperhaar und die ungewöhnlich schönen Hände. Sie errötete, weil der Gedanke an diesen Mann sie noch immer unsäglich erregte. Ich war verdorben, dachte sie, und ich bin noch immer verdorben, denn ich möchte es wieder tun.
    Sie erinnerte sich schuldbewußt an ihren Mann. Fast immer, wenn sie an ihn dachte, fühlte sie sich schuldig. Sie hatte ihn nicht geliebt, als sie heirateten, aber jetzt liebte sie ihn. Er war willensstark und warmherzig, und er betete sie an. Seine Zuneigung war beständig, es fehlte ihr ganz und gar jene verzweifelte Leidenschaftlichkeit, die sie einst gekannt hatte. Er ist glücklich, beruhigte sie sich, weil er nie gewußt hat, daß Liebe hungrig und wild sein kann.
    Ich sehne mich auch nicht mehr nach dieser Art von Liebe, redete sie sich ein. Ich habe gelernt, ohne sie zu leben, und im Laufe der Jahre ist es mir leichter geworden. Kein Wunder – denn ich bin ja fast vierzig.
    Einige ihrer Freundinnen gerieten immer noch in Versuchung. Sie erzählten ihr nichts von ihren Liebesaffären, weil sie annahmen, daß sie sie nicht billige, aber sie klatschten über die Amouren anderer, und Lydia wußte, daß es auf einigen Parties in den Landhäusern nicht selten zu … Seitensprüngen kam. Einmal hatte Lady Girard Lydia mit der herablassenden Miene einer älteren Frau den Rat gegeben: »Meine Liebe, wenn Sie je die Vicomtesse und Charlie Scott zur gleichen Zeit als Hausgäste haben, müssen Sie ihnen Schlafzimmer mit Verbindungstür geben.« Lydia war der Empfehlung nicht gefolgt, und seitdem hatte man die Vicomtesse nicht mehr in Waiden Hall gesehen.
    Man behauptete, solche Unmoral sei einzig die Schuld des verstorbenen Königs Edward, aber Lydia bezweifelte das. Gewiß, er hatte mit Juden und Sängern Umgang gepflegt, aber das machte ihn noch lange nicht zu einem Wüstling. Er war zweimal in Waiden Hall gewesen -einmal als Prinz von Wales und einmal als König Edward VII. – und beide Male hatte er sich untadelig benommen.
    Sie fragte sich, ob der neue König je zu ihnen kommen würde. Es war zwar ziemlich anstrengend, einen Monarchen zu Gast zu haben, aber es war auch aufregend, das Haus zu schmücken, die auserlesensten Mahlzeiten zubereiten zu lassen und sich für ein einziges Wochenende zwölf neue Kleider zu kaufen. Falls dieser König kommen sollte, würde er vielleicht den Waidens das so begehrte Entree gewähren – das
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