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Der Mann auf dem Einhorn

Der Mann auf dem Einhorn

Titel: Der Mann auf dem Einhorn
Autoren: Hans Kneifel
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in Mythor breit. Er war nicht auf ein besonderes Geschehen gerichtet, sondern nur die Ahnung einer Gefahr, einer unerwarteten Wendung des voraussichtlichen oder erwünschten Geschehens. Mythor klammerte sich mit den Schenkeln an den Körper des Einhorns, hob den Kopf und musterte die Felsnadel, die immer näher kam. Eine dreifache Fußspur führte aus dem Wald heraus. Auf dieser Spur lief der Wolf, neben ihr ritt Mythor und ließ seinen Blick zwischen den Fußabdrücken und der Gruppe aus Bäumen, Büschen und wuchtigen Felsen hin und her gleiten.
    Der Schneefalke schoss wie ein Pfeil auf die Nadel zu, umschwirrte sie aufgeregt und stieß gellende Schreie aus. In Mythor wuchs die Aufregung.
    Andere Spuren tauchten auf. Sie waren kaum älter und sicher nicht jünger als die dreifache Spur der Freunde. Aber sie verliefen kreisförmig um die Felsengruppe. Je näher Mythor den braunen und grauen Felsen kam, desto mehr Spuren sah er. Schließlich entdeckte er auf dem zertrampelten Gemenge aus Schnee und Gräsern die Hufabdrücke von Pferden.
    »Kalathee!« rief er.
    Die einzige Antwort war das wütende, klagende Heulen des Bitterwolfs.
    Mythor galoppierte in die neue Richtung. Der Wolf hörte nicht zu heulen auf; unablässig stieß der Schneefalke seinen Jagdruf in die klare Luft. Das Schwert in Mythors Hand gab sein klagendes Summen von sich.
    Vor Mythor befand sich niemand. Nur die Spuren wurden schärfer, tiefer und zahlreicher. Sie sahen aus, als habe hier vor gar nicht allzu langer Zeit ein Kampf stattgefunden. Mythor hatte den Felsen zu einem Drittel umrundet, und noch immer sah er die Gefährten nicht. Aber außer den Spuren gab es nichts, was auf einen Kampf hindeutete, weder zerbrochene Waffen noch zerrissene Kleidung, keine zerbrochenen Äste und kein Blut im Schnee.
    Schweigend, in steigender Besorgnis und Aufregung, gepaart mit Ratlosigkeit, ritt Mythor weiter.
    Schräg hinter ihm lief der Wolf. Er heulte nicht mehr, sondern stieß unausgesetzt ein tiefes Grollen aus. Der Falke flog hin und her. Das Einhorn begann schwer zu keuchen, aber es wurde nicht langsamer. Mythors Gewissheit, dass seine Freunde einem Überfall zum Opfer gefallen und getötet worden waren, wuchs. Aber es gab keinen Gegner.
    Jetzt hatte Mythor mehr als zwei Drittel der Büsche und Felsblöcke am Fuß der Nadel aus Stein umrundet. Nichts und niemanden hatte Mythor sehen können, aber nun berührten die Hufe des Einhorns ein Stück des Untergrunds, das völlig aufgewühlt und aufgerissen war. Hier gab es nur noch winzige Spuren von Schnee.
    Ein Felsblock schob sich in Mythors Blickfeld. Undeutlich erkannte er eingeritzte Linien. Augenblicklich hielt er das Einhorn an. Pandor bäumte sich auf, das lange Horn wies fast senkrecht in den Himmel. Mythor sprang vom breiten Rücken des Tieres und rannte über den gefrorenen Boden auf den kantigen Felsblock zu. Hinter ihm stemmte der Bitterwolf seine Läufe in den Schnee und kam zum Stehen.
    »Was ist das? Es sieht wie Schrift aus«, flüsterte Mythor und lief weiter.
    Es waren Schriftzeichen. Nach einigen Augenblicken der Besinnung erinnerte sich Mythor an Kalathees eigentümliche Art, Buchstaben aneinanderzufügen. Mit einem scharfen Gegenstand, vermutlich mit einem von Sadagars Wurfmessern, waren Worte in die fast ebene Fläche des Felsens geritzt worden. Sie hoben sich scharf und grell vom feuchten, moosgrünen Felsen ab.
    Mythor las schweigend: Ich habe erkannt, dass ich einen anderen Weggehen muss. Ich habe mich in meinen Gefühlen zu dir geirrt. Sie gehören in Wirklichkeit einem anderen.
    Es war unzweifelhaft Kalathees Schrift. Zahllose Fragen wirbelten durch Mythors Kopf. Seine so mühsam errungene Ruhe war dahin.
    Er las die Worte dreimal, viermal. Er spürte tiefe Besorgnis. Was mochte hier geschehen sein?
    Ohne es zu merken, zog er aus seinem Wams das Pergament hervor; der Wind entfaltete es in seinen Fingern. Gedankenverloren starrte er das Bild an, die Königin seines Herzens und seiner Sehnsucht, das Antlitz ohne Namen.
    Schweigend und grübelnd ging er zu seinen Tieren zurück. Horus kam aus der Luft herunter und setzte sich auf seine Schulter. Der Bitterwolf spürte Mythors Zustand und schmiegte sich an seine Knie. Still und leer lag die weiße Fläche im Licht der frühen Dämmerung. Mythor suchte nach einem Weg, einem Hinweis, wohin die Freunde verschwunden sein könnten, aber er fand nichts. Niedergeschlagenheit überfiel ihn, als er sich auf Pandors Rücken schwang. Wohin
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