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Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Titel: Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
Autoren: John Vermeulen
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hatte. Von dort, wo er meistens saß und schrieb, konnte man durch das Fenster auf den Gartenteich hinuntersehen. Ein Ausblick, der eine beruhigende Wirkung hatte.
    »Mein Körper versagt mir nach und nach den Dienst. Warum nur ist der Geist an diese armselige stoffliche Hülle gebunden? Es gibt das menschliche Leben nun schon so unendlich lange, warum hat sich nichts an seiner Unzulänglichkeit und Verletzbarkeit geändert?«
    Melzi sah ihn besorgt an. »Ich dachte, es gehe dir besser, seit wir hier wohnen!«
    »Ja…« Leonardo schaute gedankenverloren nach draußen. »Es ist so wohltuend hier. Mein Geist möchte das auskosten und sich an Ruhe und Komfort und Anerkennung laben. Aber mein verfallender Körper lässt es nicht zu. Er fordert ständige Beachtung, weil er mich mit allerlei höchst unangenehmen und schmerzhaften Abnutzungserscheinungen konfrontiert. Und das führt zu dem enervierenden Paradox, dass ich mich gehetzt fühle, weil ich weiß, dass das Ende naht und ich noch so vieles tun möchte…«
    »Leonardo«, Melzi deutete auf die vielen Seiten, die sich auf seinem Schreibtisch türmten, um von ihm ins Reine geschrieben und geordnet zu werden, »du hast mehr Denkarbeit geleistet als zehn Gelehrte zusammen. Es ist dein gutes Recht, einen Strich darunter zu ziehen, wenn es das ist, was du dir wünschst.«
    »Hm… Weißt du, das Denken wird von vielen nicht als Arbeit anerkannt. Schließlich sieht es so aus, als tue man nichts, während man sich doch verzweifelt anstrengt, die Welt zu verändern.«
    »Von vielen? Wer sind denn schon diese Vielen? Die, deren Meinung wirklich zählt, erkennen deine Verdienste sehr wohl an, Leonardo. Aber Leute mit Verstand sind nun einmal in der Minderzahl.«
    »Weise Worte für einen Schreiberling«, sagte Leonardo mit einem Anflug seiner alten Spottlust. »Du könntest noch hinzufügen, dass die dumme Mehrheit am lautesten schreien kann und infolgedessen leider auch am besten zu hören ist.«
    Melzi nickte. »Auf die Notiz bin ich irgendwo in deinen Betrachtungen gestoßen.«
    »So? Offenbar ist auch mein Gedächtnis Verschleißerscheinungen unterworfen.« Leonardo starrte auf den Teich hinunter, wo Sonnenbarsche nach Insekten schnappten und dabei Kreise auf der Oberfläche hinterließen. »Merkwürdigerweise erkennt man kaum Unterschiede zwischen einem alten und einem jungen Gehirn, wenn man sie nebeneinander in den Händen hält… Ach, da fällt mir etwas ein: Der König hat erzählt, dass in Paris ein Buch über das Wachstum des menschlichen Körpers in der Gebärmutter erschienen ist. Davon hätte ich gern ein Exemplar. Und es soll jetzt auch eine gedruckte Ausgabe von Roger Bacon geben, der schon vor zweihundertfünfzig Jahren darüber nachgedacht hat, dass der Mensch eines Tages fliegen können müsste. Das würde mich ebenfalls interessieren.«
    »Ich kümmere mich darum«, antwortete Melzi ergeben.
    Leonardo griff zu seinem Stock und erhob sich ein wenig tatterig von seinem Stuhl. Er sah Melzi mit einem eigentümlichen Blick an. »Es war mir schon immer schrecklich, auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein.«
    Melzi zuckte die Achseln. »Wer ist abhängig, der, der bezahlt, oder der, der bezahlt wird?«
    »Hm, ein interessanter philosophischer Gedanke…«
    »Zumal er von einem Schreiberling kommt, nicht wahr?«
    Leonardo schmunzelte, erwiderte dann aber ernst: »Ich bin in vielerlei Hinsicht von dir abhängig, Francesco.«
    Ohne sich weiter zu erklären, humpelte er hinaus. Melzi starrte ihm grübelnd nach.
    Der Herbst kam, und der König war immer noch nicht zurück. Leonardo erhielt aber ein Schreiben von ihm, in dem er seiner Hoffnung Ausdruck gab, vor dem Winter wieder in Amboise sein zu können, und zugleich einen Besuch von Kardinal Luigi von Aragon im Schloss avisierte, der auf Europareise sei und auch Meister Leonardo da Vinci gerne beehren wolle.
    Leonardo kannte den Kardinal flüchtig, da er in der Corte Vecchia in Mailand einst sein Nachbar gewesen war. Er wusste auch, dass Luigi von Aragon mit dem Papst auf gutem Fuß stand und dass seine Reputation nicht die beste war. Aus Machtgier sollte er sogar den Befehl zur Ermordung seiner eigenen Schwester, der Herzogin von Amalfi, gegeben haben, die auf rätselhafte Weise verschwunden war.
    Leonardo war gar nicht glücklich über diesen Besuch. »Seit wann bin ich eine Sehenswürdigkeit, die man während seiner Europareise bestaunt?«, wetterte er Melzi gegenüber.
    »Berühmt zu sein hat seinen Preis«,
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