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Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Titel: Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
Autoren: John Vermeulen
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Majestät.«
    »Hm… was hielten Sie von dem Titel Paintre du Roi , der mit einem Jahressalär von tausend écu d’or verbunden wäre, sowie der Zusage, dieses Haus bis zu Ihrem Lebensende kostenfrei bewohnen zu können?«
    Leonardo sah ihn ungläubig an. »Wenn ich träume, habe ich normalerweise Alpträume, Majestät, aber das…«
    »Sie träumen nicht, Meister da Vinci. Es ist nur recht und billig, dass ein so Großer wie Sie mit allen Ehren behandelt wird.«
    Leonardo blieb eine Weile stumm, bis er abwesend sagte: »Lebensende – als ich so jung war wie Ihr, habe ich noch keinen Gedanken daran verschwendet.«
    Der König nickte ein bisschen wehmütig. »Wer von Krieg zu Krieg ziehen muss, hat den Tod zum ständigen Reisebegleiter, Meister da Vinci.« Er deutete zur Tür. »Gehen wir?«
    Als sie wieder im Wagen saßen und die Pferde sich in Bewegung setzten, fragte der König plötzlich: »Wer ist eigentlich Ihre La Gioconda ?«
    Leonardo hatte ihm das Porträt gezeigt, und Franz I. war so hingerissen gewesen, dass er es ihm leihweise zur Verfügung gestellt hatte. Es stand jetzt auf einem Ständer in seinem Arbeitszimmer, so dass er von seinem Schreibtisch aus jederzeit daraufschauen konnte.
    »Es ist etwas Eigentümliches an ihr«, fuhr der König nachdenklich fort, als Leonardo nicht gleich antwortete. »Sie scheint etwas Aristokratisches zu haben, und doch auch wieder nicht… Ich werde nicht schlau daraus. Es ist ein faszinierendes Spiel, auf ihr Bildnis zu blicken und nach diesem geheimnisvollen Ausdruck zu forschen.« Er winkte einigen Wanderern, die ihn erkannt hatten und lauthals »Vive le Roi!« riefen.
    »Sie heißt Lisa und ist die Gemahlin eines reichen florentinischen Tuchhändlers namens Francesco di Bartolomeo del Giocondo. Was die Tafel zeigt, ist nicht ihr Alltagsgesicht, sondern eine verborgene Seite an ihr, deren sie sich, wie ich vermute, gar nicht bewusst ist. Diese Seite tritt auch nur ganz selten, in einem unbedachten Moment zutage.«
    »Und es braucht einen Künstler, der so etwas in einem Gemälde einfangen kann!«
    »Es hat mich viele Jahre gekostet, genau diesen Ausdruck auf die Leinwand zu bannen, Majestät. Und manchmal habe ich das Gefühl, ich habe es noch immer nicht ganz erreicht.«
    Leonardo zog mit Melzi und Mathurina in Cloux ein, und von nun an hatte er regelmäßig den König zu Gast. An freundschaftlicher Verbundenheit übertraf ihr Verhältnis sogar noch das von Leonardo zu Giuliano de’ Medici in Rom.
    Franz I. war ein gebildeter junger Mann mit unerschöpflichem Wissensdurst. Er bewunderte Leonardo nicht nur als einen der größten lebenden Künstler, sondern auch, weil er in den verschiedensten Wissenschaftszweigen bewandert war. Leonardo wurde gewissermaßen zu seinem Mentor, dessen Wissen Franz begierig aufsog. Ihre Gespräche und akademischen Diskussionen zogen sich oft bis tief in die Nacht hinein, so dass Leonardo manchmal kaum noch die Augen offen halten konnte. Einmal fiel er sogar mitten im Gespräch in seinem Sessel in Schlaf, um beim Aufwachen festzustellen, dass der König eine Decke über ihn gebreitet hatte und leise gegangen war. Dabei machte er meistens Gebrauch von dem unterirdischen Gang, der das Haus mit dem Schloss verband.
    Obwohl man bei ihnen schon fast von einer Vater-Sohn-Beziehung sprechen konnte, nannte Franz I. Leonardo weiterhin hartnäckig Meister da Vinci, ein Ausdruck seiner großen Hochachtung.
    Beinahe wie ein Vater, der seinen Sohn in den Krieg ziehen lassen muss, fühlte sich Leonardo infolgedessen, als der König auf unbestimmte Zeit nach Süden aufbrach, um dort seine Herrschaft zu sichern. Leonardo vermisste ihn so schrecklich, dass er den größten Teil des Tages ziellos durch Garten und Haus wanderte und nachts kaum ein Auge zutat.
    Um sich abzulenken, setzte er sich schließlich noch einmal an seinen Johannes der Täufer . Er stellte ihn in Halbfigur und entblößt als athletisch gebauten jungen Mann mit lockigem Haar dar, dessen Züge ein wenig an die von La Gioconda erinnerten. Leonardo hatte nicht die Absicht, die Arbeit dem Papst zukommen zu lassen. Das sollte Franz entscheiden – nach seinem Tod.
    Um sein Lebensende kreisten Leonardos Gedanken in diesen einsamen Momenten immer häufiger. »Ich bin fünfundsechzig, sehe aus wie achtzig und fühle mich wie hundert«, sagte er einmal zu Melzi.
    Sie saßen in dem an Leonardos Atelier grenzenden Arbeitszimmer, auf der Rückseite des Hauses, das Melzi für sich eingerichtet
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