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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch
Autoren: Dieter Wellershoff
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man sah die Außenwelt hinter der Folie wie durch einen
     Nebelschleier. Alle zögerten, bevor sie ihre Mäntel auszogen und sich einen Platz an den zwei langen Tischen suchten. Auch
     Anja hatte ihren Mantel schon an einen der Garderobenständergehängt, als ihr einfiel, ihre Geldtasche aus dem Mantel zu nehmen und in der allgemeinen Unordnung den Raum zu verlassen,
     entschlossen, sich davonzumachen.
     
    Im ersten Augenblick denkt sie, daß man ihr nachblickt und sie vortäuschen muß, sie ginge zur Toilette. Dann ist sie schon
     an der Toilettentür vorbeigeeilt, durchquert unbeachtet den Eingangsraum und ist ohne Mantel draußen im Regen. Noch könnte
     sie umkehren. Doch ohne weitere Überlegung läuft sie zur Brücke. Ihre rechte Hand umklammert die Geldtasche, in der sie neben
     dem Bargeld auch ihren Ausweis und die Scheckkarte weiß. Das sind die wichtigsten Dinge zum Überleben. Wichtiger als der Mantel,
     der noch am Garderobenständer hängt und dort vielleicht eine Weile vortäuscht, daß sie noch im Hause ist und gleich zum Tisch
     zurückkehren wird. Lange wird es nicht dauern, bis sie mißtrauisch werden. Dann wird man sie suchen. Wird sie verfolgen und
     die Polizei benachrichtigen. Patientin aus Entzugsklinik entflohen! Das kennen sie, und sie fürchten es. Denn es schadet ihrem
     Ruf.
    Sie hat jetzt die Brücke überquert. Auf dem Parkplatz steht der leere Ausflugsbus. Und die Schnellbahn nach Bonn steht mit
     offenen Türen neben dem Bahnsteig. Einige Leute sitzen in den Wagen. Bis zur Abfahrt bleiben knapp zwei Minuten. Sie läuft
     zum Fahrkartenautomaten, sucht hastig Münzen aus ihrer Geldtasche, muß sich bücken, weil ihr ein Geldstück hinfällt und ein
     Stück zur Seite rollt. Jeden Augenblick erwartet sie, daß der Krankenpfleger erscheint und sie festhält. Sie gewaltsam zurückführt.
     Jetzt erst hat sie dem Automaten das abgezählte Geld eingegeben, und der Mechanismus schiebt die Karte heraus. Schnell! Gesichterschauen ihr aus den Fenstern der Bahn entgegen, während sie gelaufen kommt. Auffallender als sie kann man nicht sein. Aber
     nun sitzt sie in der Bahn und wartet, daß sie abfährt. Endlich schließen sich die automatischen Türen.
    Eine Zeitlang sitzt sie still in fast vollkommener Abwesenheit, mit geschlossenen Augen. Nur das Fahren spürt sie wie eine
     tiefe Beruhigung. Dann kommt ein Kontrolleur durch den Wagen und will die Fahrkarte sehen. Sie hält sie zu ihrem Erstaunen
     immer noch in der Hand. Und die andere Hand, die auf dem Schoß liegt, hält die Geldtasche fest. Bevor sie die Tasche wegsteckt,
     schaut sie nach, was sie alles dabeihat. Sie zählt 28o Mark und etwas Kleingeld. Damit kann sie nicht viel anfangen. Aber
     sie hat ja die Scheckkarte. In irgendeinem Fach muß die Karte stecken. Sie findet sofort den Personalausweis, dann eine Telefonkarte
     und eine Karte mit einem Jahreskalender, Visitenkarten und Zettel mit alten Notizen, die sie längst hätte wegwerfen müssen.
     Die Scheckkarte ist nicht da. Sie muß vorhin aus der Tasche herausgefallen sein, oder sie liegt noch in ihrem Tresorfach in
     der Klinik. Sie entschließt sich, noch einmal nachzuschauen. Fach für Fach. Aber sie weiß schon: Die Karte ist nicht da. Kalt
     überläuft sie das Gefühl, daß sie verloren ist. Wo soll sie hin? Wieviel Zeit bleibt ihr noch? Die Bahn wird bald in Bonn
     ankommen. Es ist der letzte voraussehbare Zeitpunkt. Und vielleicht wird sie dort von Polizisten festgenommen, die von der
     Klinik alarmiert worden sind. Frau mittleren Alters mit über die Schultern fallenden langen Haaren. Trägt einen dunkelroten
     Blazer, hat keinen Mantel, kein Gepäck. Von weitem wird sie zu erkennen sein. Sie sitzt still, als habe man sie schon abgeführt
     und auf eine Polizeiwache gebracht. Höfliche Beamte, für die sie zweifellos einekranke Person ist, nehmen ein Protokoll auf. Sie wird sich weigern, in die Klinik zurückzugehen. Wo wollen Sie denn hin? wird
     man sie fragen. Und was sie antworten kann, wird sie erst recht in die Klinik zurückbringen. Sie will nirgendwo mehr hin.
     An keinen Ort in der Welt.
    Die Bahn fährt über die Rheinbrücke. In wenigen Minuten sind sie an der Endstation. Sie will versuchen, in einen anderen Zug
     zu steigen, in den nächsten, der abfährt, um einer Polizeikontrolle zu entkommen. Und während sie sich zurechtsetzt und sich
     darauf vorbereitet, im Gedränge des Bahnhofs unterzutauchen, spürt sie in der Jackentasche einen festen
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