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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch
Autoren: Dieter Wellershoff
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aufgebraucht.
     Noch hat sie etwas Geld. Sie muß vorsichtig damit umgehen, damit es länger reicht. Sie macht einen Bogen umdas Restaurant. Sie ißt manchmal im Stehen an einem Fischimbiß. Immer häufiger vergißt sie das Essen und gleitet langsam hinüber
     in einen Zustand von Schwäche und Benommenheit. Stundenlang sitzt sie hinter dem vom Salzwind trüb gewordenen Panoramafenster
     und verliert sich im Anblick der Gezeiten. Das Schlimmste ist, daß sie nicht mehr schlafen kann. Es sind immer nur Dämmerzustände,
     aus denen sie nach einiger Zeit ohne Hoffnung auf Erholung erwacht. Wenn sie der Wunsch, sich zu betrinken, überfällt, schneidet
     sie sich mit dem Küchenmesser in den Arm. Der Schmerz schenkt ihr einen Augenblick konzentrierter Anwesenheit, und wenn das
     warme Blut über die Haut rinnt, wird sie ruhiger und atmet tiefer. Sie hat schon viele Schnittwunden, Zeichen ihrer vergeblichen
     Befreiungsversuche und ihres unaufhaltsamen Zerfalls. Am vierten Tag gibt sie auf und kauft sich eine Flasche Rum. Sie betrinkt
     sich langsam und systematisch in der Hoffnung zu sterben, wird aber am nächsten Morgen in ihrem Erbrochenen wieder wach. Gelähmt
     von Selbsthaß und dem Bewußtsein, daß sie am Ende ist, bleibt sie noch lange liegen, bevor sie sich mühsam aufrafft, um sich
     zu waschen und sich umzuziehen. Sie hat rasenden Durst und trinkt langsam ein Glas Wasser. Ein vages Gefühl von Leben kehrt
     in sie zurück.
    Sie fährt in das erste Kellergeschoß hinunter, wo gleich neben dem Aufzugsschacht zwei Telefonzellen stehen: ein Kartentelefon
     und ein Münztelefon. Sie schiebt ihre Telefonkarte in den Schlitz und wählt Marlenes Nummer. Es meldet sich Marlenes Stimme
     auf dem Anrufbeantworter: »Hier ist der Anschluß von Dr. Marlene Gruner. Zur Zeit bin ich nicht zu Hause. Bitte hinterlassen
     Sie Ihre Nachrichtund Ihre Telefonnummer nach dem Signalton. Gegebenenfalls rufe ich zurück.« Der kurze Piepton ertönt, und Anja legt auf. Sie
     zögert, bevor sie Leonhards Nummer wählt, und blickt, sich umdrehend, in den spärlich beleuchteten Kellergang. Niemand weiß,
     wo sie ist. Das gleichmäßige Rufzeichen ist wie ein Blinksignal in der Dunkelheit, die sich über eine weite Entfernung erstreckt.
     Plötzlich ist die Stimme ihrer Mutter an ihrem Ohr, sachlich, trocken, mit einem Kratzen im Hals. Die Stimme einer alten Frau,
     die aus der Küche gekommen ist und am Apparat in der Diele steht, vielleicht mit flüchtig abgetrockneten, feuchten Händen.
     »Ja, bitte, wer ist da?« fragte sie, weil niemand sich gemeldet hat. »Hallo! Wer ist da?« Es folgt eine Pause, ein Lauschen
     auf beiden Seiten. Dann fragt die Stimme der Mutter, unsicher noch, doch in einer plötzlichen Ahnung: »Anja, bist du es?«
     Anja kann weder antworten noch auflegen und preßt den Hörer fest gegen ihr Ohr. Und während die Sekunden vergehen, wird immer
     deutlicher, daß das keine falsche Verbindung ist. »Anja, bitte, wo bist du?! Sag doch was!« Die Stimme der Mutter ist von
     Panik erfüllt, eine Stimme, die zu betteln beginnt, während sie selbst immer mehr erstarrt. »Anja, melde dich doch. Bitte!
     Sag doch, wo du bist! Wir haben gehört, du bist aus der Klinik weggelaufen. Warum hast du das getan? Wo bist du jetzt? Komm
     doch her, damit wir über alles reden können, Anja!«
     
    Sacht hat sie den Hörer auf die Gabel gelegt und den Ansturm der Stimme abgewehrt. Die Aufzugskabine steht noch da. Sie fährt
     wieder in den 14. Stock zurück. Eine unbestimmte Zeit sitzt sie in sich versunken in einem der beiden Sessel. Es ist, als
     sei sie schon nicht mehr da. Nach einerWeile steht sie auf und tritt auf die Loggia hinaus. Wieder herrscht Ebbe. Das Meer ist zurückgewichen bis zum Horizont. Es
     weht ein feuchter Wind. Sie ist nicht passend angezogen. Darauf kommt es nicht mehr an. Sie ist so weit weg von sich selbst,
     daß sie auch keine Furcht mehr hat, obwohl sie zittert. Sie wird Schluß machen, für immer. Schluß mit den Täuschungen, den
     Demütigungen, der Angst und der eigenen Schwäche. Nur noch eine Schwierigkeit muß sie überwinden: Sie muß sich rücklings auf
     die Brüstung der Loggia setzen, die Augen schließen, loslassen und Kopf und Arme nach hinten werfen. Es ist eigentlich ein
     Kinderspiel. Aber sie stellt sich ungeschickt an, weil sie so stark zittert und nicht in die Tiefe blicken will. Erst will
     sie richtig sitzen. Und dann …
    Im Fallen hört sie das laute Rauschen der
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