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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch
Autoren: Dieter Wellershoff
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Wiederholung einer einzigen Geschichte an. Anja war die einzige, die sich weigerte zu sprechen. Aber sie
     mußte an den Gruppensitzungen teilnehmen und zuhören, wie die anderen ihre Bekenntnisse machten und in der anschließenden
     Diskussion sich bereitwillig befragen und beraten ließen. Irgendwann würde sie auch zu reden beginnen, hatte die Ärztin zu
     Anja gesagt. Sie sagte es wohl zum Trost, es hörte sich aber wie eine Drohung an. Nein, sie wollte, sie konnte nicht reden.
     Schon der Gedanke daran schnürte ihr die Kehle zu, und die Hürde, die sie von den anderen trennte, wurde immer höher.
     
    Was sie veranlaßt hatte, kurz vor der Abfahrt des Busses noch den Rest ihres Bargeldes, die Scheckkarte und den Ausweis aus
     ihrem Schrankschließfach zu nehmen und einzustecken, wußte sie nicht. Es war mit keinem bestimmten Zweck, keinem Plan verbunden
     gewesen. Und vielleicht hatten andere das gleiche getan. Wer weiß, wozu es gut ist? hatte sie gedacht. Es war nicht mehr als
     das Aufblitzen einer noch verborgenen Möglichkeit, ein kurzer, heller Lichtschein und ein verschwindender Schattenriß. Daß
     sie den Busausflug benutzen wird, um aus dem Gewahrsam der Klinik zu fliehen und damit den letzten menschlichen Zusammenhang,
     der ihr Halt gibt, zu verlassen, weiß sie erst, als siees tut. Auch dann ermißt sie noch nicht die Bedeutung, die es am Ende für sie haben wird.
    Der Busausflug war schon Tage vorher angekündigt worden, als der Höhepunkt des therapeutischen Programms. Alle nicht bettlägerigen
     Patienten nahmen daran teil, und etwa ein Drittel von ihnen sollte am nächsten Tag entlassen werden. Anja allerdings nicht.
     Die Fahrt ging nach Bad Honnef, wo man im Rheincafé auf der Insel Grafenwerth zu Mittag essen wollte, um anschließend auf
     der Insel spazierenzugehen. Das Wetter war nicht besonders gut. Nieselregen, trübes Licht. Die meisten hatten auch im Bus
     ihre Mäntel anbehalten. Musik dudelte aus dem Lautsprecher. Dann hielt der Klinikchef eine Conférence, gespickt mit Formulierungen
     und Witzen, die er wohl schon vielfach wiederholt hatte. Er war der Erfinder dieser Ausflüge zur Wiederbelebung des erlahmten
     Lebensmutes und sprach wie jemand, der jeden Zweifel am therapeutischen Nutzen der Veranstaltung übertönen wollte.
    Der Bus war nicht voll besetzt. Anja hatte einen Einzelsitz. Die Mitpatienten mieden sie, weil sie sich beim Gruppengespräch
     verweigert hatte. Seitdem hatte sie das Gefühl, daß hinter ihrem Rücken über sie geredet wurde. Auch die Ärztin, die gleichmäßig
     freundlich blieb, beobachtete sie. Sie versuchte unauffällig zu bleiben, ohne daß sie in die Ausflugslaune einstimmte. Meistens
     schaute sie aus dem Fenster auf das herbstgelbe Laub am Rand der Autobahn.
     
    Der Bus hielt auf dem Parkplatz bei der Endstation der Schnellbahnen nach Siegburg und Bonn. Die Siegburger Bahn war wohl
     gerade angekommen. Angeführt vom Klinikchef gingen sie über die alte Steinbrücke, die den Rheinarm überspannt. Oben blieben sie kurz stehen, um zum Drachenfels hinüberzublicken, der hinter dem dünnen Regenschleier seinen
     wohlbekannten Umriß mit der Ruine des Burgturms zeigte. Im grauen Wasser des Rheinarms ankerte ein altes Fischerboot, das
     letzte seiner Art, wie sie auf einer Schrifttafel an der Brückenbrüstung las. Es war bis 1990 in Betrieb gewesen. Der schwarze,
     bauchige Schiffsrumpf mit dem hohen Mast und den eingezogenen Auslegern mit den Fangnetzen beeindruckte sie, als sei es ein
     geheimnisvolles, unergründliches Zeichen. Der Krankenpfleger, der als Hilfskraft der beiden Ärzte den Ausflug begleitete und
     vermutlich auch auf sie aufpaßte, mußte sie auffordern weiterzugehen.
    Dann waren sie auf der langgestreckten Insel. Neben der Anlegestelle der Ausflugsschiffe lag das Restaurant vor dem Hintergrund
     eines alten Pappelwaldes, der sich zu entlauben begann. Der Klinikchef klatschte in die Hände und erklärte, daß sie nun zum
     Mittagessen hier einkehren würden. »Aber gehen Sie bitte nicht nach links in das Restaurant. Wir haben nämlich für uns einen
     eigenen Raum reserviert. Am besten folgen Sie mir.«
    Er führte sie durch den Eingangsraum und dann durch einen Gang vorbei an den Toiletten in eine überdachte, durch zwei Wärmestrahler
     beheizte Veranda, deren zum Wald hin offene Seite anstelle von Fensterglas mit einer durchsichtigen Kunststoffplane verschlossen
     war. Der Raum wirkte wie ein Notbehelf. Er war zwar groß genug, doch
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