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Der letzte Tiger

Der letzte Tiger

Titel: Der letzte Tiger
Autoren: Nora Luttmer
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wissen.«
    Dang seufzte leise. »Ly, bitte, weißt du, wie viele Stromtote es alleine bei dem letzten Hochwasser gab?«
    »Ja, 59. Truong mitgezählt.«
    »Die können wir nicht alle untersuchen«, sagte Dang in ruhigem Tonfall, was Ly umso mehr ärgerte. Dang mochte ein guter Kriminaltechniker sein, aber manchmal machte er Ly mit seiner Art wahnsinnig.
    »Mach eine Ausnahme«, sagte Ly. »Schick ein Team in Truongs Wohnung.«
    Als Dang nicht sofort antwortete, dachte Ly, er würde seiner Bitte nachkommen. Doch dann sagte Dang: »Nicht ohne Anweisung des Parteikommissars.«
    Ly fluchte. Verdammter Bürokrat.
    *
    Parteikommissar Bui Van Hung saß an seinem großen Schreibtisch aus schwerem Holz. Hinter ihm an der Wand hing ein in Öl gemaltes Porträt von Ho Chi Minh. Der breite goldfarbene Rahmen passte perfekt zur Stuckdecke. »Genosse Ly, wie kann ich Ihnen helfen?« Der Parteikommissar drückte sich aus seinem Stuhl hoch und kam auf Ly zu. Sein Gang war schleppend, mit einer Hand stützte er sich am Schreibtisch ab. Er hatte gerade seinen achtzigsten Geburtstag gefeiert, und das Laufen fiel ihm schwer.
    »Es geht um den Fall Le Ngoc Truong«, sagte Ly.
    »Ich habe davon gehört. Auch dass er ein Freund von Ihnen war.«
    »Ein enger Freund.«
    »Mein aufrichtiges Beileid.«
    »Ich möchte in dem Fall ermitteln«, sagte Ly.
    Der Parteikommissar musterte Ly durch seine dickenBrillengläser. »Warum? Soweit mir berichtet wurde, war es ein Unfall.«
    »Es gibt Unstimmigkeiten. Ich habe kurz vor seinem Tod noch mit ihm gesprochen. Er war nervös, er wollte unbedingt mit mir reden.«
    »Worüber?«
    »Ich … wir kamen nicht mehr dazu.« Ly stockte. Was sollte er sagen? Er hatte nichts in der Hand, um zu beweisen, dass es kein Unfall war.
    Parteikommissar Hung legte Ly seine Hand auf den Arm. Eine Geste, die Ly unangenehm war.
    »Genosse Ly«, sagte der Parteikommissar leise, aber mit Nachdruck.
    »Bitte«, sagte Ly. »Ich brauche eine Vollmacht für die Spurensicherung.«
    Der Parteikommissar drückte Lys Arm und deutete ein Kopfschütteln an. »Genosse Ly, ich verstehe, dass es schmerzt, wenn ein Freund so plötzlich aus dem Leben gerissen wird. Aber nicht jeder Tod ist ein Mordfall.«
    *
    Ly rief noch einmal bei der Spurensicherung an. Doch Dang ließ sich nicht überreden, ohne offizielle Anweisung seine Leute in Truongs Wohnung zu schicken. Ly legte grußlos auf. Dann würde er sich eben selbst in der Wohnung umsehen.
    *
    Der Wohnblock in der Ngo-Quyen-Straße, in dem Truong gewohnt hatte, war ein Plattenbau aus den siebziger Jahren, der u-förmig um einen Hof gebaut war. Zwischen den Bodenplatten spross Unkraut. Im hinteren Teil des Platzes parkten Motorräder und Fahrräder. Unter einem Baum gab es einen Teestand und eine große Vitrine, in der die Volkszeitung sowie Mitteilungen des Nachbarschaftskomitees angeschlagen waren. Ly fand einen Zweizeiler zu Truongs Tod und die Wohnungsnummer der Hauswartin.
    Die Wohnung lag im zweiten Stock. Die Hauswartin war eine alte Frau. Sie erzählte Ly, dass sie normalerweise öfter bei Truong geputzt hatte, aber wegen des Wassers länger nicht in seiner Wohnung gewesen sei. Erst gestern, nachdem das Wasser aus den Erdgeschosswohnungen abgelaufen war, war sie wieder rübergegangen. Da habe sie ihn gefunden.
    Ly konnte die Hauswartin schnell überreden, ihm Truongs Zweitschlüssel zu überlassen. Sie gehörte noch einer Generation an, die gelernt hatte, der Obrigkeit zu gehorchen.
    Das Wasser war wirklich aus Truongs Einzimmerwohnung verschwunden. Trotzdem stieg Ly der pilzige Geruch, der feuchten Räumen eigen war, in die Nase. Er drückte den Lichtschalter. Der Strom war aus. Er fragte sich, wer ihn nach Truongs Tod wieder abgeschaltet hatte. Vielleicht die Leute von der Polizei, die Truong abgeholt hatten. Der Stromkasten hing hoch über der Eingangstür. Die alte Hauswartin wäre dort oben nicht einmal angelangt, wenn sie auf einen Stuhl gestiegen wäre.
    Gleich im Eingangsbereich befand sich die Küche. DerKühlschrank war ein uraltes russisches Modell. Er stand offen und war bis auf eine Dose Red Bull leer. Ly bückte sich, um sich das Kabel anzusehen. Es sah brüchig aus und war an mehreren Stellen mit Isolierband umklebt. Er konnte allerdings nicht sagen, ob da jemand etwas manipuliert hatte, und verfluchte Dang, dass er sein Team nicht herschickte.
    Die Wohnung sah in etwa so aus, wie Ly sie in Erinnerung hatte, auch wenn er seit Jahren nicht hier gewesen war. Ein Bett,
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