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Der letzte Tiger

Der letzte Tiger

Titel: Der letzte Tiger
Autoren: Nora Luttmer
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Dien-Bien-Phu waren die Rollschranken vor die Bahngleise geschoben, die hier die Straße kreuzten. Noch war kein Zug zu hören, aber der Verkehr staute sich bereits über mehrere hundert Meter.
    Als er endlich am Literaturtempel ankam, schob er sich schlechtgelaunt durch die Schaulustigen. Sie redeten leise miteinander. Ly hörte mehrmals das Wort Tiger heraus, konnte sich aber keinen Reim darauf machen. Zwei Verkehrspolizisten, die Ly den Rücken zugekehrt hatten, hielten Absperrbänder um einen alten Nissan, der frontal in die Mauer hinter dem Literaturtempel gekracht war. Die Kühlerhaube war bis zur Frontscheibe eingedrückt. Die Lichter waren zersplittert. Kopf und Brust des Fahrers lagen auf dem Lenkrad. Die Arme hingen schlaff herunter. Dr. Quang, der Rechtsmediziner, kniete zwischen Lenkrad und Leiche im Wageninneren und redete leise mit sich selbst, wie immer, wenn er konzentriert arbeitete. Ly ging um den Wagen herum. Er hatte lange kein so ungepflegtes Auto gesehen. Die Kotflügel waren verbeult, und das, so wie es aussah, nicht erst seit heute. Rost hatte sich in die Dellen gefressen, und getrockneter Schlamm klebte auf dem, was noch von dem stumpfen Lack übrig war. Die Polster der Vordersitze waren aufgerissen, weiße Füllung quoll hervor. Rücksitze gab es keine mehr. Ly beugte sich vor, um besser ins Wageninnere sehen zu können, und fuhr zurück. Adrenalin schoss heiß durch seinen Körper. Die Luft blieb ihm weg.
    Auf der Fläche hinter den Vordersitzen lag ein Tiger.Seine Augen waren geschlossen. Ly war sich aber nicht sicher, ob er tot war oder sein Brustkorb sich nicht noch leicht auf und ab bewegte.
    »Der Arme, er war vollkommen in Panik«, sagte eine Stimme neben Ly. Ein Mann war zu ihm getreten. In der Hand hielt er ein Gewehr, das aussah wie eine aufgemotzte Schrotflinte. Er war Ly eben schon aufgefallen. Er hatte neben einem der beiden Verkehrspolizisten gestanden. Wie ein Polizist sah er allerdings nicht aus. Er hatte kinnlange fettige Haare. Auf seinen Hals war ein Stern tätowiert. Seine Jeans war an den Knien durchlöchert.
    Ly deutete auf die Waffe. »Haben Sie den Tiger erschossen?«
    »Sind Sie wahnsinnig?« Der Mann warf Ly einen entsetzten Blick zu. »Betäubt habe ich ihn. Was glauben Sie denn?«
    »Was ist mit dem Fahrer?«, fragte Ly.
    »Geht mich nichts an. Ich bin nur wegen des Tigers hier.«
    Was für ein Idiot, dachte Ly. Er ging zur Fahrertür zurück, beugte sich vor und rief Dr. Quang zu: »Und, wie sieht’s aus?«
    »Hallo, Ly! Der Tote hat nur ein paar Kratzwunden im Nacken«, rief der Rechtsmediziner mit dem ironischen Unterton, der in fast allem, was er sagte, mitschwang. Rückwärts kroch er aus dem Wagen heraus. An seinem weißen Hemd klebte Blut. »Aber immerhin ist noch kein Fleisch von den Knochen geknabbert«, fügte er mit einem Grinsen hinzu. Dieser makabre Humor seines Kollegen irritierte Ly immer wieder.
    Dr. Quang zog sich die Handschuhe aus und schob Lyein Stück vom Wagen weg. »Ich muss dich enttäuschen. Dein Fall ist das nicht.«
    »Das heißt?«, fragte Ly leicht gereizt. Er mochte es nicht, bevormundet zu werden, auch nicht von Dr. Quang, den er sehr respektierte.
    »Es war kein Mord. Ich denke, der Tiger ist einfach etwas zu früh aus seiner Narkose erwacht«, sagte Dr. Quang. »Der Mann hat sich erschrocken und – rums – den Wagen gegen die Wand gesetzt. Genickbruch. Dumm gelaufen. Der arme Tiger sieht aber auch ganz schön mitgenommen aus.« Der Rechtsmediziner unterstrich seine Worte mit ausschweifenden Handbewegungen.
    »Was musste der Mann auch mit einem lebenden Tiger spazieren fahren!«, sagte Ly und fragte sich gleichzeitig, wieso hier alle Mitleid mit dem Tiger hatten und nicht mit dem Fahrer.
    »Die wollten das Tier sicher noch ein bisschen mästen«, sagte Dr. Quang. »Umso größer der Tiger, desto schwerer die Knochen. Und umso mehr Geld gibt’s. In dieser Knochenpaste steckt ein Vermögen. Und das ist es ja wohl, worum es hier geht, oder was meinst du?«
    »Wahrscheinlich«, sagte Ly mit dem Anflug eines schlechten Gewissens, hatte er doch selbst gerade erst diese Paste kaufen wollen. Er wandte sich ab, dann doch froh, dass das hier kein Fall für die Mordkommission war. Im Kopf versuchte er hochzurechnen, wie viel Tigerknochenpaste man wohl aus so einem Tier herausholen könnte.
    Aus dem Augenwinkel sah er, wie Nguyen Manh Tu am Unfallort eintraf. Tu war der neue Leiter der Abteilung für Umweltschutz, die jüngst bei der
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