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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche
Autoren: Aris Fioretos
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paar Jahren verrät allein die Wortstellung noch seine Fremdheit. Als wäre aus der Unordnung eine neue Ordnung erwachsen. Es wird Zeit, dass wir die Ohren spitzen. Obwohl der Gastarbeiter selbst es vielleicht als Letzter erkennt, so sehr ist er damit beschäftigt, seine Existenz zu sichern, lässt die fremde Syntax uns verstehen, was es bedeuten mag, ›im Besonderen‹ zu existieren.« Der Redner signalisierte Anführungszeichen in der Luft, während das Publikum überhastet in die Hände klatschte und seine abschließenden Worte übertönte.
    Die siebzehn Gäste hatten zwar nicht viel von dem Gesagten verstanden, aber beim Hinausgehen meinten einige der Auslandsgriechen, es sei ein gutes Gefühl zu wissen, dass es die Gehilfinnen Clios gab, die ihr Schicksal im Auge behielten. Nur Agneta blieb sitzen, da sie ahnte, dass nichts geendet, alles erst begonnen hatte. Sie dachte noch immer über die letzten Worte nach. »Oder um mein Beispiel zu zitieren: ›Hier gibt es niemanden, der sich an uns erinnert. Niemanden, niemanden …‹ Ich hoffe, dass ich in diesem Punkt zeigen konnte, dass auch ein schwedischer Herakles sich gelegentlich irrt.« Als der Redner zwischen den aufstehenden Gästen ihrem Blick zu begegnen suchte, wusste sie, dass sie gesehen worden war.
    APOKALYPSE . Müssen wir den idiotischen Konventionen folgen und erzählen, was geschah, als Jannis eines Tages Ende September schon nach der Mittagspause heimging? Wir haben ehrlich gesagt keine … Entáxi, entáxi . Es war ein windiger Montag. Na gut, ein Freitag. Er hatte immer noch Schmerzen in dem Ellbogen, den er noch eine Weile in einer Mitella würde tragen müssen. Er vermisste seine Tochter. Er fühlte sich wie nasse Wäsche auf der Leine. Vielleicht hätte er anrufen und Bescheid sagen sollen, dass er nach Hause kommen wollte – oder wenigstens fragen können, ob er auf dem Heimweg noch etwas einkaufen sollte. Stattdessen nahm er, das Kinn in der Jacke begraben, den Bus. Vor ihm saß eine ältere Dame mit Lockenwicklern. Der Kragen ihrer Bluse war geblümt, die Bluse ebenfalls. Es würde sein dritter Winter in dem neuen Land werden, und er fragte sich, wem er erzählen konnte, dass ihm das Gackern der Hühner und die Rufe von den Feldern fehlten. In Schweden vermisste ihn niemand. Dachte er. Denken wir uns. Dann hielt er inne. Dummes Zeug. Natürlich würden Agneta und Jannoula ihn vermissen, wenn er nach Áno Potamiá zurückkehrte. Also … Also gab es zwei Heimatorte in seinem Leben. Wie Krocketstäbe. Er lächelte müde. Wie hatte Dreck-Janne es genannt? »Opposition.«
    Hieß dies, dass Orte kein Gedächtnis hatten und einzig ihre Bewohner vermissen und trauern konnten? Jannis fiel es schwer, das zu glauben. Nur weil das Feld, das er verspielt hatte, nicht mehr seiner Familie gehörte, vergaß es doch nicht seine Hacke? Und auch wenn jetzt bloß ein Mensch in Karamellas Bett schlief, verriet die Füllung in der Matratze doch viele Körper. Oder dieser verdammte Tisch aus grünem Filz. Er hatte hunderte Siege und Niederlagen gesehen, seit er, Jannis, begriffen hatte, dass Straßen in zwei Richtungen führten. Irgendwann würde ein Archäologe all diese Plätze und Gegenstände entdecken – lange nachdem es Menschen gab, die sie vermissten – und selbst wenn vieles rätselhaft bleiben oder falsch gedeutet werden sollte, erzählten sie doch eine Geschichte. Es gab Dinge, die für alle Zeit verloren gegangen waren, und es gab Verlorenes, das darauf beharrte, weiter zu existieren. Das Leben bestand aus Verlusten letzterer Sorte. Sie allein sorgten dafür, dass es verständlich blieb.
    Als er aufschloss, stand Agneta mit einem Handtuch um die Haare mitten im Wohnzimmer. Ansonsten war sie nackt. Ihre Wangen waren rosig, die Atemzüge leicht. Die Eheleute sahen sich an. Beide waren wie gelähmt. Schließlich stammelte seine Frau, es sei vielleicht keine so gute Idee, dass Jannis ausgerechnet jetzt nach Hause komme. Er klärte sie darüber auf, dass er in dieser Wohnung lebte. Sie versuchte ihn zu bewegen, sich die Sache noch einmal zu überlegen. Er meinte, dass ihm der Arm wehtue und er sich ausruhen wolle, am liebsten bis zum Jüngsten Tag. Sie sagte, der Jüngste Tag könne sicher warten. Er gab einer anderen Auffassung den Vorzug, streiten konnten sie sich später. Erst als er seine Jacke aufhängte, erkannte er, dass sich eine dritte Person in der Wohnung aufhielt. Er wandte sich um, er sah an der Schulter seiner Frau vorbei, er …
    » Jiá
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