Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche
Autoren: Aris Fioretos
Vom Netzwerk:
Wochen erscheinen wird, besteht aus einem fortlaufenden Verzeichnis über das Schicksal von Menschen, die von der Geschichte vertrieben wurden. Der Vorsatz einer solchen Enzyklopädie ist löblich, wenn auch nicht unumstritten. Oder richtiger: Die Gehilfinnen Clios haben von Anfang an die Mittel diskutiert. Bedarf es der Dichtung, um das Leben verständlich zu machen? Oder soll sich der Historiker darauf beschränken, Fakten zu sammeln und zu ordnen?«
    Agneta wusste, dass der Mann sein Abitur bei Hermods Fernlehrinstitut gemacht hatte, aber nicht, dass er in den Siebzigerjahren promovieren würde. Sie wusste, dass er sie ansah, als würden sie sich schon kennen, aber nicht, dass er Schriften zu Themen wie »Patriotismus ohne Vaterland« und »Die Vollendung der eigenen Person mit Worten: ein hoffnungsloses Unterfangen« verfassen sollte. Oder dass er gerne lange schlief. Bleistifte spitzte. Ohne Strümpfe in den Schuhen ging. Ungern telefonierte. Gerne Spaziergänge machte. Oder während der unvorhersehbaren Zahl von Jahren, die sie gemeinsam in einer Wohnung hinter dem Botanischen Garten verbringen würden, sein Wohnheimzimmer in Sparta behielt – »ein strenges Exil von meinem verschwenderischen Leben mit dir«, wie er sagen sollte, als er viel später das Glas abstellte, das er an ihre Lippen gehalten hatte, damit sie ihr bitteres Medikament schluckte. Sie wusste nicht, dass er vieles bereuen würde, jedoch nie, dass er sich nach dem Vortrag, bevor sie sich ihren Schal umband, dafür entschuldigen würde, wie schwer es ihm gefallen war, den Blick von der Offenbarung des Abends zu nehmen. » Signómi , aber ich bezweifle, dass man sich an Ihnen satt sehen kann.« Oder dass er sich, als er bemerkte, wie sie an ihrem Trauring schraubte, erkundigte, ob sie sich nicht »trotz aller Verpflichtungen« auf eine Tasse Kaffee verabreden könnten. Während Agneta angesichts dieser Schamlosigkeit errötete, fühlte sie sich trotzdem machtlos. Es spielte keine Rolle, wie abgedroschen die Phrasen waren, dachte sie und tastete nach den Zigaretten in ihrer Handtasche, wie oft er sie ausgesprochen oder wie selten sie die Worte gehört hatte. Sie erkannte, dass sie in Anspruch genommen werden wollte, sie wollte nach hinten fallen.
    »Lassen Sie mich abschließend«, sagte der Mann, während die Zuhörer eindösten, »ein lebendes Beispiel für diese Disziplin des Abschieds geben.« Aber ehe er seinen Fall in Haut und Haare, und vielleicht auch Herz oder jedenfalls Muskeln kleiden konnte, verlor sie ihn erneut aus den Ohren. Denn nun war es nicht mehr die Ahnung, die Agneta beschäftigte, sondern der Schauer. Und dieser war wie die feine Elektrizität, die sie zu Beginn seiner Ansprache gespürt hatte. Er war Fischflossen und Magnesiumfeuer, er war knisternder Staub. Er bewegte sich in ihrem Inneren wie ein selbständiges Wesen, halb Spuk, halb Wirklichkeit, wie ein Inkubus, der durch die Nervenbahnen flog und Synapse auf Synapse anzündete – und ehe sie sich versah, ehe sie sich wieder zu konzentrieren vermochte und die schläfrigen Zuhörer abschließend Beifall klatschten, war sie entflammt. Unwiderstehlich und, wie sich zeigen sollte, für den Rest ihres Lebens.
    Hier machen wir eine verlegene Pause. Um Jahrhunderte des Schweigens einzulassen. Kriege und Scheidungen. Und ausgediente Kalender.
    »Meine Damen und Herren« – plötzlich erhob der Mann seine Stimme, und Agneta erkannte, dass sie in Gedanken woanders gewesen war – »ich frage mich, ob nicht die Literatur die Geschichte rehabilitieren kann. Denken Sie nur an all die Griechen, die ihr Heimatland verlassen haben. Zwingen die neuen Umstände sie nicht, sich selbst neu zu erfinden? Warum sollte dieser Einfallsreichtum kein Teil ihrer Biografie sein? Oder der Historiker nicht von ihnen lernen können?« Er sah auf die Uhr. » Óch , ich habe viel zu lange geredet.« Der Vorsitzende nickte nobel. »Bedaure. Ich werde bei anderer Gelegenheit über die Perspektive der jüngeren Generation referieren. Ehe ich schließe, möchte ich nur noch Abschied nehmen von jener Gestalt, die ich vorhin flüchtig erwähnte. Lässt sich das machen, Herr Tsipouris?« Liebenswertes Lächeln in der ersten Reihe. »Der Heilige winkt und lockt ihn mit Gesängen, aber ›er schüttelt bloß den Kopf, / Seufzet schwer, und eilet davon‹. So ist er, der unbekannte Grieche, über den ich sprechen wollte – weder hier noch dort zu Hause, ein Wanderer und Migrant, ein zäher Träumer. Nach ein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher