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Der letzte Engel (German Edition)

Der letzte Engel (German Edition)

Titel: Der letzte Engel (German Edition)
Autoren: Zoran Drvenkar
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hockten sie hier schon und nichts geschah.
    Jasmin hob die Schultern und meinte, sie hätte die Blumen bestimmt schon mal gesehen, sie wüsste nur nicht, wo das war.
    »Erinner dich«, sagte Mona.
    Jasmin dachte kurz nach und stellte mit einem dramatischen Seufzer fest, sie würde sich nicht erinnern. Mona lachte.
    »Du hast dir ja nicht gerade viel Mühe gegeben«, sagte sie. »Ich könnte dich wieder hypnotisieren.«
    Ohne eine Antwort abzuwarten, kramte sie in ihrer Rocktasche und zog ein Pendel heraus. Seitdem Mona im Fernsehen einen Bericht über Hypnose gesehen hatte, war Jasmin ihr Versuchskaninchen. Das Pendel war ein in Alufolie gewickelter kleiner Stein, der an einem Bindfaden hing. Es gab für Jasmin nichts Langweiligeres, als auf dieses alberne Pendel zu starren, während Mona irgendwelche Sprüche vor sich hinmurmelte.
    »Das ist langweilig.«
    »Nur weil du immer einschläfst.«
    »Nur weil du mit dem Ding vor meiner Nase rumfuchtelst.«
    »Das ist kein Ding, das ist ein Pendel.«
    »Das ist ein Stein in Alufolie, Mona.«
    Sie grinsten sich an und wurden wieder still, sie schauten den Kormoranen zu, die taten, als wären die Mädchen nicht anwesend. Mona legte ihrer besten Freundin den Arm um die Schulter, sie lehnten aneinander, und genau da geschah es – Mona berührte ungewollt Jasmins Erinnerung und diese Erinnerung hatte rein gar nichts mit der Kindheit einer Zehnjährigen zu tun.
    Sie waren weit weg von der Küste. Wind umwehte sie und brachte den Duft von satter Erde mit sich. Jasmin saß auf einem Pferd und schaute sich um und Mona folgte ihrem Blick – sie sah durch Jasmins Augen, sie hörte mit ihren Ohren und atmete mit ihr die Luft. Das Pferd stand auf einer Wiese, die mit blauen Blumen bewachsen war und an das Meer im Sommer erinnerte. Das ist also das Blau, an das sie sich erinnert hat, dachte Mona, als hinter der Anhöhe eine Frau angeritten kam und laut rief:
    »Wo bleibst du nur?!«
    Die Frau trug ein rotes Kleid, die Lederstiefel gingen ihr bis über die Knie, ihr Hals war mit nadelfeinen weißen Tattoos bedeckt. Auf halbem Wege beugte sie sich so weit aus dem Sattel, dass sie mit einer Hand durch das Blumenmeer streichen konnte. Die Blüten flogen durch die Luft, lila Pollen stob auf, aber Mona sah das nicht wirklich. Sie hatte nur Augen für die Flügel auf dem Rücken der Frau, die eng an ihrem Körper lagen, um dem Wind so wenig Widerstand wie möglich zu bieten. Als die Frau sich wieder aufrichtete, roch sie den Duft der Blüten an ihren Fingern und brachte ihr Pferd neben Jasmin zum Stehen.
    »Schwester, sie warten auf uns«, sagte sie.
    Im selben Moment wusste Mona ihren Namen.
    Lisk .
    Und sie wusste auch, dass sie Zwillingsschwestern waren.
    »Dann lass sie warten«, antwortete Jasmin in einer Sprache, die Mona fremd war, dennoch verstand sie jedes Wort, und es wurde ihr warm im Bauch, als sie den Klang –
    »Bist du eingeschlafen?«
    Mona schreckte hoch, die Freundinnen lehnten aneinander und hatten die Köpfe auf den Felsen gelegt. Die Wiese, die Pferde und die Reiterin waren verschwunden. Jasmin gähnte. Mona bewegte den Mund, als könnte sie die fremde Sprache im Nachhinein schmecken. Sie wusste, sie hatte nicht geschlafen. Schlaf fühlt sich anders an, dachte sie und sagte:
    »Ich war da. Ich glaube, ich war in deiner Erinnerung.«
    Jasmin lachte.
    »Ohne mich oder was?«
    »Mit dir«, sagte Mona und erzählte von dem Pferd und der Frau mit den Flügeln.
    »Tattoos?«, wiederholte Jasmin mit einer Spur Neugierde.
    »Bis hierhin«, sagte Mona und malte eine Welle auf Jasmins Hals.
    »Netter Traum.«
    »Das war kein Traum.«
    »Dann eben nicht. Aber wo auch immer du gewesen bist, da war ich noch nie.«
    Jasmin schaute wieder zu den Nestern, ein Kormoran breitete seine Flügel aus und faltete sie wieder zusammen. Mona legte ihrer Freundin die Hand zwischen die Schulterblätter.
    »Und was ist, wenn du mal Flügel hattest?«, fragte sie.
    Jasmin stand auf. Sie hatte keine Lust auf dieses Spiel, was auch immer es für ein Spiel war. Sie wollte zurück zum Haus, die Kormorane würden auch morgen noch da sein.
    »Kommst du?«
    »Gleich«, antwortete Mona.
    Jasmin ging vor, und Mona blieb sitzen und wunderte sich, ob es vielleicht Erinnerungen gab, die man selbst nicht kannte. Dann nahm sie einen Stein und warf ihn nach den Kormoranen. Die Vögel rührten sich nicht, denn auch das waren sie gewöhnt – zornige Mädchen, die Eier stehlen wollten und ungeduldig wurden. Der
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