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Der letzte Engel (German Edition)

Der letzte Engel (German Edition)

Titel: Der letzte Engel (German Edition)
Autoren: Zoran Drvenkar
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zurück. Sie hätte sich nicht umdrehen sollen. Eine Rauchwolke stieg aus dem Dachstuhl des Hauses auf und wuchs dem Himmel entgegen. Auch Mona blieb stehen. Sie hätten einfach weiterlaufen sollen. Der Pfeil kam aus dem Nichts und durchschlug Jasmins Nacken mit solch einer Wucht, dass die Spitze unter ihrem Kehlkopf wieder hervortrat. Jasmin schaute Ennis ungläubig an und hustete. Ein feiner Nebel aus Blut bedeckte das Gesicht der Gouvernante, dann schloss Jasmin die Augen und ihre Arme lösten sich von Ennis’ Hals und fielen leblos herab.
    Die Gouvernante spürte, wie ihre Knie nachgaben. Das Gewicht auf ihren Armen schien sich verzehnfacht zu haben, als hätte das Mädchen all die Tage mit in den Tod genommen, die sie jetzt nicht mehr leben durfte. Ennis konnte Jasmin nicht mehr halten und legte sie auf die Steine. Sie wollte sich setzen und das tote Mädchen festhalten, da riss Mona an ihrem Arm. Ennis taumelte einen Schritt auf sie zu, und der zweite Pfeil zerbrach an dem Felsen, vor dem die Gouvernante eben gestanden hatte.
    »Wir müssen weiter«, sagte Mona.
    »Aber …«
    »Komm!«
    Und so sind sie zum Strand runtergerannt und haben die Pfeile ignoriert, die mit einem knallenden Echo von den Felsen wiederhallten und die Kormorane aus ihren Nestern schreckten. Ihr Ziel war das Meer, und sie sahen kein einziges Mal zurück, während hinter ihnen ihr Zuhause in Flammen aufging.
    Lazar sah die Gouvernante und das Mädchen zwischen den Klippen verschwinden und lud seine Armbrust nach. Er war nervös und er war vorher nie nervös gewesen. Die letzten vierzehn Jahre hatten ihn aus dem Gleichgewicht gebracht. Er war alt geworden und während dieser Pause in eine träge Passivität verfallen, und dann tauchte dieses Haus hier wie aus dem Nichts auf, und die Nervosität brach aus. Niemand hatte nach der langen Zeit damit gerechnet. Aber wirklich niemand.
    Lazar versuchte, sich zu konzentrieren. Er spürte, dass sich sein Fokus zu verschieben begann. Konzentration. Es war nicht seine Aufgabe, der fliehenden Gouvernante und dem Mädchen hinterherzurennen. Er hatte sich um das Haus zu kümmern.
    Also schickte er Tulli Marsden.
    Tulli holte die beiden ein, bevor sie den Strand erreichen konnten. Die Gouvernante war ohne Bedeutung, sie hörte ihn nicht einmal kommen. Er trat ihr die Beine weg, sah sie zwischen die Klippen stürzen und im Meer verschwinden. Tulli hatte gedacht, das Mädchen würde automatisch stehen bleiben, sobald die Frau nicht mehr an ihrer Seite war.
    Er hatte sich getäuscht.
    Das Mädchen sprang wie eine Katze von Fels zu Fels und erreichte den Strand, lange bevor Tulli die Klippen runtergestiegen war. Ihr Nachteil war, dass Lazars Männer sich mit dem Terrain vertraut gemacht hatten. Tulli folgte einem Pfad zum Meer hinunter, umrundete die Bucht und schnitt so dem Mädchen den Weg ab. Er wartete geduldig hinter den Felsen, hörte ihre Schritte über den Sand näher kommen und bereitete sich darauf vor, sie zu überraschen.
    Vier Tage bevor Mona durch Tulli Marsdens Hand sterben sollte, berührte sie das erste Mal eine Erinnerung und stieß damit die Tür auf, die Lazar und seine Söldner an diesen Küstenstreifen führen sollte.
    Der Morgen hatte mit einem Schauer begonnen, dann kam die Sonne durch die Wolkenfront und spannte einen mageren Regenbogen über den Küstenstreifen.
    Es war der richtige Tag für ein Abenteuer.
    Mona und Jasmin versteckten sich seit dem Frühstück zwischen den Klippen. Sie hatten eine Wolldecke auf den Felsen ausgebreitet und konnten von ihrem Platz aus die Kormorane im Auge behalten. Seitdem es wärmer geworden war, schlichen die zwei Mädchen jeden Tag zu den Klippen und beobachteten den Nestbau und wie das Gerüst aus Ästen entstand und mit Seetang ausgelegt wurde. Letztes Jahr hatten sie gesehen, wie die Eier ausgebrütet wurden; dieses Jahr wollten sie eines stehlen.
    Die Mädchen hatten gelesen, dass Kormorane in Japan fürs Fischen gezähmt wurden. Seitdem wollten sie eins der Eier selbst ausbrüten. Auch wenn keine von ihnen Fisch besonders mochte, stellten sie sich vor, was Stella für ein Gesicht machen würde, wenn plötzlich Tüten voller Fisch vor der Tür standen. Dummerweise schienen die Kormorane zu wissen, was die Mädchen planten – sie bauten seit drei Wochen an ihren Nestern, weigerten sich aber, Eier zu legen.
    »Es gibt Blumen, die haben dasselbe Blau wie die Eier«, sagte Jasmin.
    »Was für Blumen?«, fragte Mona und gähnte.
    Zwei Stunden
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