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Der Lavagaenger

Titel: Der Lavagaenger
Autoren: Reinhard Stoeckel
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einmal neu in sein Leben gekommen waren, unbenutzt, gleichsam jungfräulich ohne die geringste Spur eines andern Lebens. Helder hatte sie eingelebt, sie ohne Zwang auszutauschen, widerstrebte ihm.
Einmal wissen, dieses bleibt für immer …,
sang es knackend von einer seiner alten Schallplatten.
    So hatte er nicht nur auf seinem alten Telefon beharrt, auch sein sonntägliches Frühstücksei durfte nur in einem orangeroten Hühnchen aus Schkopauer Plaste stecken, dem letzten im Haushalt verbliebenen seiner Art. Ein Konservativismus, den Susanne nicht verstand und des Öfteren als Geiz missdeutete.
    Ja, er besaß noch immer eines dieser altertümlichen Sprachaustauschgeräte, bei denen man den Hörer auf eine Gabel knallen konnte.
    Helder bediente sogar noch eine Wählscheibe. Hier schob man noch mit dem Zeigerfinger unter Gebrauch der Handmuskulatur die erforderliche Ziffer in Startposition. Kein hastiges Eintippen, das von einem vorprogrammierten Piepen quittiert und dessen Ergebnis auf einer digitalen Anzeige präsentiert wurde. Hier legte jede Ziffer einen Weg zurück, jede einen eigenen. Die Eins einen ganz kurzen, und die Null, ja, die Null, die surrte deutlich vernehmbar fast eine ganze Kreisbahn entlang, bis sich das vom Finger verlassene Loch in der Wählscheibe wieder deckungsgleich über die ihm zugeordnete Ziffer geschoben hatte. Da war jeder Anruf, Ziffer um Ziffer den Finger in einem der zehn Wählscheibenlöcher, ein sinnliches, ja beinahe erotisches Erlebnis, bei langen Nummern fast masochistisch.
    Der Fortschritt, das wusste Helder, hatte sich nie aufhalten lassen. Seine eigene Branche, die Eisenbahn, war doch dereinst heftig befehdet worden. Den Leuten, warnte mancher, würden bei der hohen Geschwindigkeit (man fuhr damals dreißig Stundenkilometer) die Augen ins Hirn und selbiges aus den Ohren gedrückt werden. Wenn es überall an Hirn fehlt, sagte er, ist daran nicht die Bahn schuld!
    Noch ist Eisenbahn Eisenbahn und Telefon Telefon. Noch ist die Zeit nicht gekommen, da Güter und Personen durch den Äther reisen. Beam doch mal die Pizza her! Susanne wäre glücklich drüber.
    Ach, Helder, mag dich die Zukunft verlachen, wir tun es nicht! Nur Tasten zu drücken, was ist das gegen die Möglichkeit, seinem Ärger über eine gesprächsweise Zumutung körperlich Ausdruck zu verleihen und den Hörer nicht nur aufzulegen, sondern, wir erwähnten es, auf die Gabel zu knallen? Heute pressen wir den Daumen kräftig auf ein gummiertes Knöpfchen, quetschen es heftig, bis eines Tages unter Schweiß und Schmutz und Wut auch noch das dort aufgeprägte Symbol eines Telefonhörers verschwunden ist.
    Glücklich ein jeder, der wie Helder mit seinem Telefonhörer noch etwas in der Hand halten darf, fest von der Faust umschlossen, wie ein Werkzeug. Keine dieser digitalen Plauderdosen, die man mit zwei Fingern halten konnte, ja musste, weil die übrigen daran keinen Halt fanden, so dass der kleine Finger zwangsläufig mit der Noblesse einer frisch ondulierten Kaffeehausbesucherin abgespreizt wurde. Dies hier war etwas für Männerhände, für das richtige Zupacken. Ein entschlossener Griff genügte, wenn das alarmschrille Läuten Trommelfell und Fensterscheiben vibrieren ließ, das durchs Haus hallte und in alten Kriminalfilmen den Tod seines Bewohners um so eindrucksvoller erahnen ließ, je länger dieses Schrillen und Scheppern andauerten. Denn man musste schon tot oder zumindest bewegungsunfähig sein, um auf dieses Welterweckungsgeläute nicht zu reagieren.
    Tot sein (oder stellen) oder den Hörer abnehmen, das war hier die Frage.
    Wurde sie mit einem
Hallo
beantwortet, war sie fürs Leben entschieden. Für den Empfang elementarer Nachrichten: Tod oder Auferstandensein, Krankheiten und Lottogewinne, Kindsgeburten und Autokäufe, angedrohte Besuche und erleichternde Absagen. Alles nahm seinen Weg durch den Draht.
    Einst vermeldeten ein Knacken und Rauschen in der Leitung große Fernen, gemahnten gebrüllte und dennoch kaum zu verstehende Worte: Diese Verbindung kann verlorengehen, der Gesprächspartner jeden Moment im telefonischen Äther entschwinden. Die Gelegenheit, etwas sagen zu können, war kostbar, war überzogen vom Glanz der Unwiederbringlichkeit.
    Wer noch so telefonieren kann, sagte Helder, der ist physisch verbunden mit dem verheißungs- oder angstvollen Unbekannten. Verbunden durch einen in Spiralen sich windenden Draht vom Hörer, der auch ein Sprecher ist, zum Apparat, von dort durch ein weiteres
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