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Der lange Weg zur Freiheit

Der lange Weg zur Freiheit

Titel: Der lange Weg zur Freiheit
Autoren: Nelson Mandela
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säubern, und obwohl er das als unangenehm empfand, tat er, worum sie ihn bat. Dann fiel, wunderbarerweise, alles Kranke von den Augen der alten Frau ab, und sie wurde jung und schön. Der Mann heiratete sie und wurde reich und glücklich. Es ist eine ungemein simple Geschichte, doch ihre Botschaft ist von Dauer: Tugend und Edelmut erhalten ihren Lohn auf eine Weise, die man nicht im voraus kennen kann.
    Wie alle Xhosa-Kinder eignete ich mir Wissen hauptsächlich durch Beobachtung an. Wir sollten durch Nachahmen lernen, nicht durch Fragerei. Als ich später die Häuser von Weißen besuchte, war ich anfangs verblüfft über die Anzahl und die Art der Fragen, die Kinder ihren Eltern stellten – und über die ausnahmslose Bereitschaft der Eltern, diese Fragen zu beantworten. Bei uns galten Fragen als lästig; Erwachsene gaben Kindern Erklärungen, die sie für notwendig hielten.
    Mein Leben, genau wie das der meisten Xhosas damals, wurde im großen wie im kleinen geformt durch Sitte, Ritual und Tabu. Dies war das A und O unserer Existenz und wurde nicht in Frage gestellt. Männer folgten dem Pfad, der für sie durch ihre Väter vorgezeichnet war; Frauen führten das gleiche Leben wie ihre Mütter vor ihnen. Ohne daß sie mir erklärt wurden, assimilierte ich bald die komplexen Regeln, welche die Beziehungen zwischen Männern und Frauen beherrschten. Ich entdeckte, daß ein Mann kein Haus betreten darf, in dem eine Frau kürzlich ein Kind zur Welt gebracht hat; daß eine frisch verheiratete Frau den Kral ihres neuen Heims nicht ohne Zeremonie betreten darf; und daß die Vernachlässigung der eigenen Vorfahren Unheil und Mißlingen im Leben zur Folge hätte. Geschah es jedoch, daß man seine Vorfahren entehrte, so konnte man das nur sühnen, indem man sich an den traditionellen Heiler oder Stammesältesten wandte, der mit den Vorfahren kommunizierte, und das tiefe Bedauern des Schuldigen übermittelte. All diese Glaubensvorstellungen waren mir völlig natürlich.
    Als Junge kam ich in Qunu nur mit wenigen Weißen zusammen. Der örtliche Magistrate war natürlich weiß, wie auch der nächste Ladenbesitzer. Zuweilen tauchten weiße Reisende oder Polizisten in unserer Nachbarschaft auf. Diese Weißen erschienen mir großmächtig wie Götter, und mir ging auf, daß sie mit einer Mischung aus Furcht und Respekt behandelt werden mußten. Doch sie spielten in meinem Leben nur eine beiläufige Rolle, und über den weißen Mann oder die Beziehungen zwischen meinem eigenen Volk und diesen seltsamen, weit entfernten Gestalten dachte ich nur wenig nach, wenn überhaupt.
    In unserer kleinen Welt in Qunu war die einzige Rivalität zwischen verschiedenen Clans oder Stämmen jene zwischen den Xhosas und amaMfengu, von denen eine geringe Anzahl in unserem Dorf lebte. Die amaMfengu waren zum östlichen Kap gekommen, weil sie vor Shaka Zulus Armeen geflohen waren, in jener Periode, die man die Mfecane nennt: die große Welle von Schlachten und Wanderungen zwischen 1820 und 1840, ausgelöst durch Shakas Zulu-Staat, der sämtliche Stämme bezwingen und dann unter seiner Militärherrschaft vereinigen wollte. Die amaMfengus waren Flüchtlinge aus amaMfecane, die ursprünglich nicht Xhosa sprachen, und sie mußten zunächst Arbeiten verrichten, die kein anderer Afrikaner tun wollte. Sie arbeiteten auf den Farmen und in den Geschäften der Weißen, was von den bessergestellten Xhosa-Stämmen verachtet wurde. Aber die Mfengus waren fleißige Leute, und wegen ihrer Kontakte mit Europäern waren sie oft gebildeter und »westlicher« als andere Afrikaner.
    Zu meiner Knabenzeit waren die amaMfengus längst der fortgeschrittenste Teil der Gemeinde und stellten unsere Geistlichen, Polizisten, Lehrer, Clerks und Dolmetscher. Die amaMfengus gehörten auch zu den ersten, die Christen wurden, bessere Häuser bauten, in der Landwirtschaft wissenschaftliche Methoden anwandten, und sie waren wohlhabender als ihre Xhosa-Landsleute. Sie bestätigten den Grundsatz der Missionare, der da lautete: Christ sein heißt zivilisiert sein, und zivilisiert sein heißt Christ sein. Es gab in Qunu Vorurteile und feindselige Gefühle gegenüber den amaMfengus, doch im Rückblick würde ich dies eher dem Neid als irgendwelchen Stammesfeindseligkeiten zuschreiben. Diese lokale Form von Tribalismus, die ich als Junge beobachtet hatte, war relativ harmlos. Damals sah ich nichts und ahnte auch nichts von jenen gewalttätigen Stammesrivalitäten, die später von den weißen
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