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Der lange Weg zur Freiheit

Der lange Weg zur Freiheit

Titel: Der lange Weg zur Freiheit
Autoren: Nelson Mandela
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zu schwimmen und mit Schnur und geschärften Drahtstücken Fische zu fangen. Ich lernte, mit dem Stock zu kämpfen – für jeden afrikanischen Jungen auf dem Land eine unerläßliche Fähigkeit –, und übte mich in den verschiedenen Techniken: wie man einen Schlag pariert, wie man in eine Richtung fintiert und in einer anderen zuschlägt; wie man sich mit schneller Beinarbeit von einem Gegner löst. Aus dieser Zeit rührt meine Liebe zum Veld, zu offenen Weiten, zu den einfachen Schönheiten der Natur, der klaren Linie des Horizonts.
    Damals spielten wir mit selbstgemachtem Spielzeug. Wir formten es aus Lehm und bildeten Tiere und Vögel nach. Aus Baumästen fertigten wir sogenannte Lastschleppen, die von Ochsen gezogen wurden. Die Natur war unser Spielplatz. Im Gelände um Qunu gab es viele große glatte Felsbrocken, auf denen wir hinunterrutschten. Dies taten wir wieder und wieder, bis unser Hinterteil so wund war, daß wir darauf nicht mehr sitzen konnten. Ich lernte, auf jungen Kälbern zu reiten, und wenn man erst mehrmals abgeworfen worden war, hatte man den Bogen raus.
    Eines Tages erhielt ich einen Denkzettel von einem störrischen Esel. Alle waren auf seinen Rücken und wieder hinunter geklettert, und als die Reihe an mir war, sprang ich hinauf, und der Esel tat einen Satz in einen nahen Dornenbusch. Er bockte solange, bis er mich abgeworfen hatte, mit dem Ergebnis, daß ich ein zerstochenes und zerkratztes Gesicht hatte, wofür ich mich vor meinen Freunden schämte. Wie die Menschen des Ostens besitzen Afrikaner ein hochentwickeltes Gefühl von Würde oder das, was die Chinesen »Gesicht« nennen. Ich hatte vor meinen Freunden mein Gesicht verloren, und obwohl mich ein Esel abgeworfen hatte, lernte ich, daß einen anderen Menschen zu demütigen bedeutet, ihn ein unnötig grausames Schicksal erleiden zu lassen. Schon als Junge lernte ich es, meine Gegner zu bezwingen, ohne sie zu entehren.
    Für gewöhnlich spielten wir Jungen unter uns, doch mitunter ließen wir unsere Schwestern mitmachen. Jungen und Mädchen spielten Spiele wie »Ndize« (»Verstecken«) und »Icekwa« (»Einkriegen«). Aber das Spiel mit den Mädchen, das mir am meisten Spaß machte, war eins, das wir »Khetha« nannten, das »Wähle-wen-du-magst«-Spiel. Dies war weniger ein organisiertes Spiel als vielmehr ein spontaner Sport, der dann stattfand, wenn wir eine Gruppe von gleichaltrigen Mädchen ansprachen und ihnen sagten, jedes solle sich den Jungen aussuchen, den es liebte. Unseren Regeln gemäß war die Wahl des Mädchens zu respektieren, und sobald es sich seinen Favoriten ausgesucht hatte, konnte es weitergehen, begleitet von dem glücklichen Jungen, den es mochte. Doch die gewitzten Mädchen – weitaus gescheiter als wir tölpelhaften Burschen – besprachen sich oft miteinander und suchten sich dann allesamt einen Jungen aus, meist den unansehnlichsten oder beschränktesten, den sie dann auf dem ganzen Heimweg hänselten.
    Das beliebteste Spiel für Jungen hieß »Thinti«, und wie die meisten Jungenspiele war es eine Nachahmung des Krieges. Zwei als »Zielscheiben« dienende Stöcke wurden in einem Abstand von etwa 30 Meter senkrecht in den Boden getrieben. Wir teilten uns in zwei gleich große Gruppen, und Zweck des Spiels war es, mit Stöcken nach dem gegnerischen Zielstock zu werfen und ihn umzuschleudern. Jede Mannschaft versuchte, ihren eigenen Zielstock zu verteidigen und die andere Seite davon abzuhalten, sich ihre geworfenen Stöcke zurückzuholen. Als wir älter wurden, organisierten wir dieses Spiel gegen Jungen aus Nachbardörfern, und wer sich in diesen brüderlichen Schlachten auszeichnete, wurde sehr bewundert, so wie Generäle, die im Krieg große Siege erringen, gefeiert werden.
    Nach solchen Spielen kehrte ich dann zurück zum Kral meiner Mutter, die das Essen zubereitete. Während mein Vater Geschichten von historischen Schlachten und heldenhaften Xhosa-Kriegern erzählte, erfreute uns meine Mutter mit Legenden, Mythen und Fabeln, die über zahllose Generationen weitererzählt worden sind. Es waren Geschichten, die meine kindliche Phantasie anregten, und meistens enthielten sie irgendeine Moral. Ich erinnere mich an eine Geschichte, die von einem reisenden Mann handelte, dem sich eine alte Frau näherte, die furchtbar an grauem Star litt. Sie bat ihn um Hilfe, doch der Reisende wendete seinen Blick ab. Dann kam ein anderer Mann des Weges, und auch an ihn trat die alte Frau heran. Sie bat ihn, ihre Augen zu
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