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Der Kuss des Meeres

Der Kuss des Meeres

Titel: Der Kuss des Meeres
Autoren: Anna Banks
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Regalen, auf meinem Schreibtisch oder in meinem Schrank, was nicht irgendwie mit ihr zu tun hätte. Auszeichnungen, Bilder, Make-up, Kleider, Schuhe, Stofftiere. Selbst mein Bettzeug ist eine gesteppte Collage von Bildern aus unserer Kindheit, die wir gemeinsam für ein Schulprojekt gebastelt haben. Würde ich alles aus meinem Zimmer werfen, was mich an Chloe erinnert, wäre das Zimmer ziemlich leer.
    Genauso fühle ich mich jetzt.
    Ich bleibe einige Schritte vor dem nassen Sand stehen, lasse mich fallen und ziehe die Knie an die Brust. Das Meer am Morgen ist ein großartiger Gefährte, wenn man allein sein will. Es besänftigt und tröstet und stellt keine Fragen. Im Gegensatz zur Sonne. Je höher sie steigt, desto mehr erinnert sie mich daran, dass sich die Zeit nicht anhalten lässt. Man kann ihr nicht entfliehen. Sie schleicht dahin, ganz gleich, ob man eine Standuhr aus Treibholz betrachtet oder die Sonne.
    Mein erster Schultag ohne Chloe ist angebrochen.
    Ich wische mir die Tränen aus den Augen und stehe auf. Bei jedem Schritt zurück zum Haus kralle ich die Zehen in den Sand. Mom sitzt auf der Treppe der hinteren Veranda und wartet auf mich. Mit einer Hand streicht sie ihren Morgenrock glatt, in der anderen hält sie einen Becher mit Kaffee. Vor dem Hintergrund des grau geschindelten Strandhauses wirkt sie in ihrer weißen Robe wie ein Gespenst– nur dass Gespenster kein langes, ebenholzschwarzes Haar und schockierend blaue Augen haben oder Espresso trinken. Sie lächelt, wie eine Mutter ihre Tochter anlächeln sollte, die mit einem Verlust nicht fertigwird. Grund genug für meine Tränen, umso größer und schneller hervorzuquellen.
    » Morgen«, sagt sie und klopft neben sich auf das Holz.
    Ich setze mich hin, lehne mich an sie und erlaube ihr, die Arme um mich zu legen. » Morgen«, erwidere ich mit kratziger Stimme.
    Sie reicht mir den Becher und ich nippe daran. » Soll ich dir Frühstück machen?« Sie drückt meine Schulter.
    » Danke, aber ich habe keinen Hunger.«
    » Du brauchst etwas Energie für deinen ersten Schultag. Ich könnte Pfannkuchen backen. French Toast. Und ich habe alles für ein gutes Reste-Omelett da.«
    Ich lächele. Ich liebe Reste-Omelett. Sie nimmt alles, was sie kriegen kann– Eier, Zwiebeln, Paprika, Pilze, Kartoffelwürfel, Tomaten und was sonst noch in ein Omelett passen könnte oder auch nicht. » Klar«, sage ich und stehe auf.
    Der Duft des Mischmaschs dringt bis ins Badezimmer, und ich versuche zu erraten, was drin ist, als ich aus der Dusche trete. Riecht nach Jalapeños, was meine Stimmung ein wenig aufhellt. Ich werfe mein Handtuch aufs Bett und ziehe irgendein Shirt von einem Kleiderbügel in meinem Schrank. Ich habe keine Lust gehabt, neue Klamotten für die Schule zu kaufen. Meine Mitschüler werden also mit meinem altbewährten Look klarkommen müssen– T-Shirt, Jeans und Flipflops. In zwei Wochen werden das sowieso alle tragen, wenn der Zauber des Neuen aus den sorgfältig geplanten Outfits verschwindet. Ich binde mein Haar zu einem schlampigen Knoten und stecke ihn mit einem Bleistift fest. Dann greife ich nach meinem Make-up-Beutel und halte inne. Wimperntusche ist heute keine gute Idee. Vielleicht etwas Foundation. Ich greife nach dem Fläschchen– der Farbton nennt sich » Porzellan«. Angewidert knalle ich es auf meine Kommode. Das ist, als ob man Tipp-Ex auf ein leeres Blatt Papier schmiert– sinnlos. So hell wie Porzellan bin ich von ganz allein. Momentan bestehe ich praktisch aus Porzellan .
    Als ich die Treppe hinunterlaufe, steigt mir ein würziges Aroma in die Nase. Das Reste-Omelett ist wunderbar. Hoch aufgetürmt, dampfend und voller leckerer Sachen. Es ist eine Schande, dass ich ziemlich lustlos darin herumstochere. Das Glas Milch daneben rühre ich nicht an.
    Ich werfe einen Blick auf den Platz an der Stirnseite des Tisches, auf dem mein Dad immer gesessen ist. Zwei Jahre sind vergangen, seit er an Krebs gestorben ist, aber ich kann mich noch genau daran erinnern, wie er seine Zeitung immer neben dem Teller gefaltet hat. Wie er und Chloe um den Sportteil gestritten haben. Und dass das einzige Beerdigungsunternehmen der Stadt bei seinem Tod genauso gerochen hat wie bei ihrem.
    Ich frage mich, mit wie vielen leeren Plätzen am Tisch ein Mensch leben kann, bevor er daran zerbricht.
    Mom schiebt von der anderen Seite des Tisches einen Schlüssel zu mir herüber und verbirgt ihren Blick hinter ihrer Kaffeetasse. » Ist dir heute danach, selbst zu
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