Der Kuss des Jägers
seine
Diener waren noch da. Um sie herum tobte noch immer die Schlacht mit seinen
Dienern und Verbündeten. Sammelte er neue Kraft, um zum vernichtenden Schlag
auszuholen? Unwillkürlich umklammerte sie das Kreuz und das Fläschchen in ihren
schweißnassen Händen fester. Sie hatte es dem Dämon so überstürzt
entgegengeschleudert, dass nicht mehr viel Weihwasser übrig war. Und wo hatte
sie nur den Zettel mit dem Exorzismus? Sie kauerte sich neben den Schaukasten
und legte widerstrebend das Holzkreuz ab, um in ihrer Tasche wühlen zu können.
Aber würde sie überhaupt genügend Zeit haben, das Gebet aufzusagen, wenn der
Dämon – gestärkt von Menschenblut – mit Macht zurückkam? Ihre Finger zitterten.
Ein schriller Schrei stieß wie ein Speer in ihr Ohr, als ein Stoß in
die Seite sie auch schon zu Boden warf. Sie spürte etwas Kaltes an ihren
Fingern, während eine Klaue über ihrem Kopf hinwegsauste. Kostbares Weihwasser
ergoss sich auf die Fliesen. Hastig schob sie den verrutschten Daumen wieder
über die Öffnung, mit der anderen Hand tastete sie nach dem Kreuz. Im letzten
Augenblick rollte sie sich zur Seite, bevor Fänge mit messerlangen Krallen auf
die Stelle niederfuhren, an der sie eben noch gelegen hatte. Strampelnd setzte
sie sich auf, um gleichzeitig zurückzuweichen. Die schwarzen Schwingen eines
mannsgroßen Adlers füllten ihr ganzes Blickfeld aus. In den scharfen
Raubvogelaugen loderte rotes Feuer. Erneut gellte der Schrei, als der aufgerissene
scharfe Schnabel auf sie zuschoss.
»Weiche!«, kreischte sie und stieß ihm das Kreuz entgegen.
Was? Eine Sekunde lang starrte
Jean entgeistert das verblassende Abbild des Dämons an.
»Aber ich dachte, er soll jetzt …«, begann
Maurice verwirrt, und Jean musste ihn nicht sehen, um zu wissen, auf wen der
Junge dabei deutete. Er spürte die Intensität nachlassen, mit der Henri seinen
Arm unter Spannung hielt. Vermutlich starrte auch er Kafziel verwundert an oder
sah fragend zu Arnaud, während Sylvaines Blick zwischen dem Dämon, Jean und
Lilyth hin- und herschoss.
Eine Flut heißen Zorns spülte Jeans Überraschung fort. »Verfluchter
Bastard!« Hätte er nicht wissen müssen, dass einem Dämon niemals zu trauen war?
Der Schmerz, mit dem Henri seinen Ausbruch bestrafte, steigerte nur seine Wut.
Er fühlte das Gift des Bösen in sein Herz ätzen. Hass ballte sich zu einer
dunklen Wolke, die sich um ihn legte.
»Für ihn haben wir bald bessere Verwendung«, fuhr Kafziel Sylvaine
an. »Töte sie, bevor es zu spät ist!«
Der Dämon war nur noch ein Schemen, doch Jean spürte seine Gegenwart
umso deutlicher in sich. Versuch, mich zu besitzen! Stopf
mir das Maul, wenn du kannst! »Lasst sie gehen, ihr Schweine!«, brüllte
er, was Henri sofort mit einem Ruck an seinem Arm quittierte. Für einen
Augenblick raubte der Schmerz ihm Gehör und Verstand. Was auch immer die
Satanisten sich zuriefen, es ging in rötlich weißen Blitzen unter, die aus
seiner Schulter in sein Gehirn schossen.
»Bist du nicht insgeheim erleichtert? Besser sie
als du«, flüsterte ihm eine Stimme schmeichelnd zu.
Er ertappte einen winzigen Teil seiner selbst dabei zuzustimmen und
empfand Scham, die der Wut neue Flügel verlieh. Nein! Gib
sie frei, du Monster!
»Wer ist der Kerl wirklich?«, drang Arnauds Stimme an sein Ohr. Kafziels
Bild war verschwunden.
»Er muss der Dämon sein, der Caradec alle Geheimnisse dieses Rituals
enthüllt hat«, erwiderte Sylvaine aufgeregt. »Er ist es, der für uns das Tor
öffnen wird.« Ihre Stimme gewann Festigkeit zurück. »Macht euch bereit! Wir müssen
uns an seine Anweisungen halten, sonst werden wir unser Ziel nicht erreichen.«
»Nei…« Jean hörte seine eigene Stimme versagen, als eine kalte Hand
ihm unter seiner Haut die Kehle zudrückte. Würgend rang er nach Luft.
»Du gehörst jetzt mir und wirst sagen, was ich
dir befehle.«
Ich hab dich eingelassen, aber ich hab dir keinen
Gehorsam geschworen! Mit einer inneren Hand, deren Existenz er nicht
geahnt hatte, zerrte er am Griff der eisigen Macht um seinen Hals. In nomine patris … Seine Gedanken brachen ab, als er sah,
wie Sylvaine den Dolch hob. Nein!
»Polizei! Waffe fallen lassen!«, hallte Tiévants Stimme unter dem
Gewölbe – begleitet von hastigen Schritten, die von zwei Seiten ertönten und
sofort wieder verhielten.
Einen Lidschlag lang keimte Erleichterung in Jean auf, doch dann
fiel sein Blick auf Sylvaine, und im gleichen Moment fiel die Präsenz
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