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Der Kuss der Göttin (German Edition)

Der Kuss der Göttin (German Edition)

Titel: Der Kuss der Göttin (German Edition)
Autoren: Aprilynne Pike
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aufzulösen. Es erinnert mich an das Gefühl von Sand, der unter meinen Füßen weggeschwemmt wird, wenn sich das Meer zurückzieht.
    Innerhalb von ein paar Sekunden ist sie fort.
    Schnell schaue ich zurück in den Spiegel. Die Fahrkarte ist schon weg; ich habe nur eine Minute – vielleicht zwei –, um in das vertraute Gesicht zu blicken. Genau genommen könnte ich es noch einmal machen, aber irgendwie weiß ich, dass es sich nach heute falsch anfühlen würde und dies die einzige wirkliche Chance ist, meine Mutter zu sehen.
    Ich starre in den Spiegel, versuche, die Sekunden auszudehnen, aber die Zeit funktioniert so nicht, und bald schmilzt die lange Nase zu meiner kurzen zusammen, die schlammgrünen Augen werden braun, das Haar kürzer.
    Und ich bin wieder ich selbst.
    Und meine Mom ist immer noch tot.
    Meine Finger umklammern den Spiegel fester, der mir jetzt nichts mehr als mich selbst zeigt.
    Alle, die ich geliebt habe, sind tot. Oder schlimmer.
    Außer Quinn , erinnert mich Rebeccas Stimme, aber ich schiebe sie weg. Ich kann jetzt keine Hoffnung zulassen. Ich bin voller Leid, da ist kein Raum für etwas anderes.
    Ich ziehe die Knie zur Brust und lege die Wange darauf. Ein Blick unter halb gesenkten Wimpern hervor zeigt mir die Passagiere um mich herum in dem halbvollen Bus.
    Eine Mutter wiegt ein Kleinkind auf dem Schoß. Das Gesicht hat es an ihre Schulter geschmiegt, aber ich höre trotzdem sein leises Schluchzen. Ein paar Sitze weiter hinten lehnt ein Mann den Kopf an die Scheibe und schweigt, aber ich kann undeutlich Tränen über seine Wangen rinnen sehen. Eine Teenagerin sitzt auf der anderen Seite des Mittelgangs, die Kapuze ihres Pullis übers Gesicht gezogen, Kopfhörerkabel ziehen sich zu einem iPod in ihren Händen. In ihren geballten Fäusten. Ich frage mich, ob sie schläft, bis ein lautes Schniefen aus dem Schatten ihrer Kapuze dringt.
    Und weil ich nicht allein bin, lasse ich meine Tränen ebenfalls fließen. In diesem Greyhound-Nachtbus, der unter einem tintenschwarzen Himmel über die Straße rollt, wird es niemand bemerken.

    »Ich bin gekommen, sobald ich es gehört habe.«
    »Ich wünschte, das wärst du nicht.« Ich stehe in meinem Büro – meinem richtigen, meinem geheimen – und starre durchs Fenster hinaus in die Dunkelheit.
    »Bist du sicher, dass es dir gut geht?«
    »Es geht schon.« Meine Kehle ist eng, und ich gebe dem ungewohnten Gefühl, das Spitzen durch mein Inneres schießt, eine Stimme. »Ich habe versagt«, flüstere ich.
    »Nein.«
    »Doch«, zische ich. »Sie war … sie war so stark. Sie sollte nicht so stark sein!« Meine Stimme wird lauter, ich hasse es, dass ich so die Kontrolle verliere, aber ich scheine sie nicht zügeln zu können. »Sie sollte schwach sein – kaum in der Lage zu funktionieren. Es hätte ein Kinderspiel sein müssen, sie ins Boot zu holen, nachdem Benson ihr geholfen hatte, ihre Erinnerungen zu wecken.« Ich beiße die Zähne zusammen. Ich will nicht, dass er mich weinen sieht. »Ich verstehe nicht, was passiert ist.«
    Er schweigt lange, und irgendwann drehe ich mich um, in der Erwartung, einen missbilligenden Gesichtsausdruck zu sehen. Doch er ist argwöhnisch. »Was, wenn … was, wenn sie sich nicht nur verändert hat? Was, wenn sie sich auch noch auf Null zurücksetzt – mangels eines besseren Begriffs.«
    »Zurück zu ihrer ursprünglichen Stärke?« Bei dem Gedanken schließt sich die Angst um meinen Hals und schnürt mir die Luft ab. »So grausam wären die Götter sicherlich nicht.«
    »Aber es ist möglich.«
    »Ich denke, wir haben bewiesen, dass in diesem Stadium nichts unmöglich ist«, sage ich und wende mich von ihm ab.
    »Wenigstens wissen wir, wohin sie will.«
    »Zu ihm«, sage ich bitter. »Könnte es noch schlimmer kommen?« Ich wende mich ihm zu – dem Mann, den ich sogar länger kenne und liebe, als meine Erinnerungen reichen. »Jetzt bist du dran, den Jäger zu spielen.«
    Er nickt, sagt aber nichts. Er wusste es schon. Deshalb ist er hergekommen. Um sie mir aus den Händen zu nehmen.
    Er kann sie haben.
    Wir schauen einander lange an – manchmal glaube ich, Worte sind kaum noch nötig zwischen uns.
    Dann dreht er sich ohne ein Wort des Abschieds um und geht – geschickt betätigt er den Haken der geheimen Tür. Ich schaue auf die Tür, die jetzt wieder wie eine gewöhnliche Wand aussieht, und höre wie von Ferne die Minuten auf meiner Standuhr herunterticken.
    »Mach es besser als ich«, flüstere ich.

K apitel
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