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Der kuerzeste Tag des Jahres

Der kuerzeste Tag des Jahres

Titel: Der kuerzeste Tag des Jahres
Autoren: Ursula Dubosarsky
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Theodora schrieb alle Antworten auf, rechnete sie nach Beendigung der Umfrage zusammen und trug sie mit rotem Stift als › Ergebnisse ‹ ein. Dann versiegelte sie das Notizbuch mit Klebefilm und schloss es in ihrem Garderobenschrank ein.
    Elias rieb sich die Wange und überlegte. Theodoras wissenschaftliche Herangehensweise ans Leben rührte ihn und er versuchte sie darin zu bestärken.
    »Ich ziehe rohes Gemüse eingemachtem Obst vor«, sagte er schließlich.
    Theodora zog die Stirn kraus. »Das passt nicht in meine Kategorien«, sagte sie verärgert.
    »Dann ändere deine Kategorien«, schlug Elias vor. »Ansonsten klingen meine Antworten wie Lügen, bloß weil deine Fragen unzureichend sind.«
    Oder Theodora sagte, nachdem sie eine Weile selbstvergessen Grimassen gezogen hatte, irgendein obskures Ziel vor Augen: »Wie weit ist es von Brasilien nach Sierra Leone?«
    »Hol den Atlas«, antwortete Elias dann, »und schlag es nach.«
    Samuel bewunderte Theodora während solcher Dispute. Aber in seine Bewunderung mischte sich Unbehagen. Er fühlte sich selber so unwissend. Als wüsste er nichts über irgendetwas, das wissenswert war.
    Alle schienen so viel mehr zu wissen als er – und das schien nicht nur so, sondern es entsprach den Tatsachen. Hannah, Elkanah und Elias wussten Dinge, weil sie alt waren, das war nachvollziehbar, aber wie konnte Theodora so viel wissen, die doch nur ein Jahr älter war als er selbst? Sie las Bücher, sie sah fern, sie hörte Radio – aber all das tat er auch. Es war, als bliebe ihm immer nur eine schwächliche Antenne und ein flackerndes Bild, während Theodora einen Supersatelliten besaß, der ganze Galaxien durchdrang und dabei endlos weit entfernte Signale auffing, von deren Existenz er nie etwas geahnt hatte.
    Wenn er sich mit seinem Großvater unterhielt, fielen ihm immer nur alltägliche Dinge ein. So wie: »Mama hat letzte Woche einen neuen Fotoapparat gekauft.«
    »Ach wirklich?«, sagte Elias und zog dabei das hoch, was von seinen Augenbrauen übrig war. »Wofür?«
    Samuel zuckte die Achseln. »Weiß nicht. Die neue kann wahrscheinlich irgendwas, das die anderen nicht können.«
    Hannah besaß jede Menge Fotoapparate. In den meisten Familien ist irgendwann einer regelmäßig fürs Fotografieren zuständig, während alle anderen wiederholt Opfer der Verschlussblende werden. In ihrer Familie war Hannah die Vollstreckerin.
    »Hattet ihr Fotoapparate, als du noch klein warst?«, fragte Samuel, weil Elias kein einziges Foto seiner Familie besaß.
    »Es gab Kameras und Fotos, es gab sogar Filme«, antwortete Elias. »Aber nicht besonders viele. Und sie waren nicht so leicht zu kriegen.«
    Na, wo sind sie denn dann?, wollte Samuel fragen. Die Fotos. Deine Mutter und dein Vater? Brüder und Schwestern? Hatte Elias überhaupt Brüder und Schwestern? Samuel wusste nichts über Elias ’ Familie, außer dass sie alle tot waren. Sie waren allesamt in Europa ermordet worden, als damals, eine halbe Welt entfernt, gewaltige Armeen gegeneinander gekämpft hatten, geführt von furchterregenden Gestalten in schwarz-weißen Wochenschaubildern, mit schwarzen Schnurrbärten und zuckenden, hoch in die Luft geworfenen Händen.
    »Inzwischen gibt es ja auch noch Video«, warf Theodora ein. »Und manche Leute filmen einfach alles. Nicht nur Geburtstage und Hochzeiten. Bei meiner Freundin Jessica zu Hause stehen ganze Regale voller Videobänder, das glaubt ihr nicht. Was auch immer sie machen, sie nehmen alles auf Video auf.«
    »Tun sie das?«, sagte Elias mit einem Kopfschütteln, als glaubte er das sehr wohl. »Ich bin froh, dass ich so etwas nie besessen habe.«
    »Und es verschwindet sowieso alles, wisst ihr«, fuhr Theodora selbstgefällig fort. »Videos halten nicht für immer, nicht wie Film. Wenn sie die in zwanzig Jahren anschauen wollen, wird nichts mehr zu sehen sein.«
    Wie schrecklich, dachte Samuel. Sie werden sich fühlen, als wären sie verschwunden. Schlimmer noch. Sie werden sich fragen, ob alles, was sie gefilmt haben, überhaupt je wirklich geschehen ist.
    »Sie sollten Notizbücher führen«, sagte Elias und streichelte Theodoras Hand. »Der Bleistift ist mächtiger als das Video.«
    Wie wohl Elias mit elf Jahren gewesen war, fragte sich Samuel. War er gut in der Schule gewesen? Spielte er Football? Bekam er Taschengeld und aß er gerne Lutscher? Wohnten sie in einem Haus mit Garten oder in einem Hochhaus? Er wusste, dass Elias in einer Stadt namens München aufgewachsen war,
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