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Der kuerzeste Tag des Jahres

Der kuerzeste Tag des Jahres

Titel: Der kuerzeste Tag des Jahres
Autoren: Ursula Dubosarsky
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eingeschüchtert durch seinen Vater – diesen energetischen, ungestümen Koloss, der mit solcher Leichtigkeit tragische wie komische Rollen vor Tausenden von Menschen sang, der sich in Seide und Federn und weiße Rüschen kleidete und in glänzend schwarze Stiefel mit goldenen Schnallen. Sein Vater war riesig und gut aussehend und liebenswert, und Samuel war es nicht. Er glich eher seiner Mutter, die ruhig war, weise und traurig.
    »Bin ich nicht«, beharrte Hannah. »Ich bin bloß nachdenklich.«
    Hannah arbeitete in einem Krankenhaus, in das Menschen kamen, die zu viel getrunken oder zu viele Drogen genommen hatten, es lag in der Natur der Sache, dass sie traurige Dinge sah.
    »Sie hat keinen Kummer«, sagte Theodora. »Sie ist bloß müde«, weil Hannah immer Überstunden machte.
    »Sie ist nicht traurig«, sagte Elkanah. »Sie ist bloß hungrig«, weil Hannah immer noch zu wenig Appetit hatte.
    »Normalerweise hat Papa recht, weißt du«, sagte Theodora zu Samuel, und wenn jemand das behaupten konnte, dann sie, weil sie es bloß in ihren jahrelangen Aufzeichnungen, all jenen gestapelten Schreibheften in ihrem Garderobenschrank, nachschlagen musste.
    Man konnte allerdings, überlegte Samuel, auch nicht erwarten, dass Theodora Hannah verstand. Sie war nicht ihre Mutter. Aber er verstand Hannah. Er und Elias.
    Kapitel 4
    Elias
    Samuels Großvater Elias lebte in einem Wohnblock; einem hübsch geschwungenen, rosafarbigen Gebäude mit breitem Balkon, von dem aus man eine ganze Senke voller Häuser und, in nicht allzu weiter Entfernung, sogar den Hafen betrachten konnte. Nachts lösten die Häuser, die Bäume und das Wasser sich auf, dann blieb nichts als unregelmäßig verteilte einzelne Lichter, die sich von dem Dunkel abhoben wie auf dem Umhang eines Zauberers.
    Manchmal, an Wochenenden oder in den Ferien, übernachteten Theodora und Samuel bei Elias. Elias hatte ein Zimmer nur für die beiden hergerichtet, mit zwei Betten aus weiß lackiertem Holz, großen gefederten Matratzen und Steppdecken und Laken, die nach Apfel rochen. An die Wände hatte er Bilder gehängt, von denen er hoffte, dass sie ihnen gefielen, Hasen und Schwäne und schattige Tümpel voller Fische, und es gab ein Regal mit Büchern und Spielsachen, die ausschließlich für ihre Besuche gedacht waren. Elias liebte Samuel und Theodora, aber am leidenschaftlichsten empfand er für sein einziges Enkelkind Samuel. Elias war ein in sich versteckter Mann, der schreckliche Dinge erlebt hatte, über die nie geredet wurde, und die verwandtschaftliche Bindung an Samuel bewegte ihn zutiefst. Samuel liebte seinen Großvater, fühlte sich aber von ihm getrennt wie von einem Wesen aus einer anderen Welt, und in vielerlei Hinsicht war da etwas dran. Die Welt, aus der Elias stammte, war von einem so entsetzlichen und alles verschlingenden Flächenbrand hinweggefegt worden, dass Samuel ihn sich kaum vorstellen konnte.
    »Der alte Mann vergöttert ihn«, bemerkte Elkanah mehr als ein Mal, wenn er Samuel und Elias beisammen sah. Er kringelte Hannahs rotes Haar um seine dicken Finger. »Er betet den Jungen an.«
    Er hätte hinzufügen können, › das ist gefährlich ‹ , aber das war ein Gedanke, der Elkanah, der selber zum Vergöttern neigte, gar nicht kam.
    Wenn Samuel und Theodora ihn besuchten, gab Elias ihnen immer etwas Besonderes zu essen. Nicht Lutscher oder Schokolade, sondern Dinge aus dem Feinkostladen – in Öl eingelegte getrocknete Tomaten, blassen Weichkäse, Brot mit so viel eingebackenem Obst, dass man es wie eine Torte essen konnte.
    Sie futterten all die Leckereien aus Einmachgläsern oder direkt aus dem weißen Wachspapier, in das sie eingeschlagen waren, bei schönem Wetter draußen auf dem Balkon, wo sie Backgammon spielten oder, als sie älter wurden, Schach. Elias sah weder fern noch hörte er Musik, aber er las ihnen laut aus altmodischen Büchern vor, die er in Antiquariaten aufstöberte – Die Abenteuer des David Balfour, Die Schatzinsel, Der Graf von Monte Christo.
    Und sie redeten viel.
    »Magst du lieber Obst oder Gemüse?«, fragte Theodora beispielsweise, den Stift schreibbereit über ihrem Notizbuch. »Ich mache eine Umfrage.«
    Theodora liebte Umfragen. In der Regel dachte sie sich zunächst ein eher gewöhnliches Thema aus, so wie, was ist dein Lieblingstier, welche Farbe haben deine Augen, um sich dann langsam ungewöhnlicheren Fragen zuzuwenden, so wie, welches Wort kommt dir als erstes in den Sinn, wenn ich › Möbel ‹ sage?
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