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Der Kranich (German Edition)

Der Kranich (German Edition)

Titel: Der Kranich (German Edition)
Autoren: Manuela Reizel
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höheren Ebene der Wahrnehmung, hatte den Anstoß gegeben, und Ralf hatte mir den Weg geebnet. Ich spürte, wie sich die Härchen auf meiner Haut aufrichteten, und ich begann am ganzen Körper zu zittern. Ich konnte es kaum erwarten, diejenigen wiederzusehen, die ich liebte!
    Inzwischen war es vollkommen dunkel geworden, weit und breit war keine Menschenseele zu sehen, und der Friedhof würde bald geschlossen werden. Ich setzte die Sonnenbrille auf und wanderte langsam den Weg zurück, den ich gekommen war.
    Vaihingen-Schillerplatz verließ ich die U-Bahn und erstand an einem Kiosk die neueste Ausgabe des
Chronos
. Es war die zweite Ausgabe innerhalb eines Monats, die dem Blatt eine Rekordauflage garantierte und es in den Mittelpunkt internationaler Aufmerksamkeit katapultierte. Ich musste grinsen, als ich den Aufmacher las. Offensichtlich begann Ralf, Gefallen an seiner journalistischen Tätigkeit zu finden.
    Der Titel, den ein äußerst schmeichelhaftes Bild von mir schmückte, lautete:
„Spektakulärer Durchbruch auf dem Gebiet der A.I.-Forschung – vierundzwanzigjähriger Hacker schafft mit seinem Programm den Turing-Test! Hält eine geniale Marketingstrategie die Stuttgarter Kripo wochenlang zum Narren?“
    Vor dem Kiosk stehend, das Gesicht unter Sonnenbrille und Baseballkappe verborgen, überflog ich den Artikel. Ich fand zwar, dass Ralf etwas übertrieben hatte, als er mich zu einer Art Superstar der internationalen IT-Szene stilisierte, auf Augenhöhe mit seinem Idol Steve Jobs, doch die Sache erfüllte auf jeden Fall ihren Zweck. Wir hatten Öffentlichkeit geschaffen, und das verschaffte mir die Möglichkeit, wieder frei zu entscheiden. Dass ich in diesem Zusammenhang noch der einen oder anderen unangenehmen Nachforschung seitens der Behörden ausgesetzt sein würde und ohne jeden Zweifel die Verantwortung für meine Entscheidungen zu übernehmen hatte, erschien mir in diesem Moment von untergeordneter Bedeutung. Konsequenzen gibt es immer, und andere hatten diesen vor mir ins Auge geblickt. Ich rechnete ohnehin nicht damit, dass wir jemals erfahren würden, wer sich hinter der Bezeichnung „Organisation“ verbarg. Sicher schien mir jedoch, dass sie sich nun nicht mehr an mich heranwagen würden und an niemanden, der mit
NORT
in Verbindung stand. Und ich würde meinen Teil dazu beitragen, dass es sich zu dem entwickelte, wofür es bestimmt war: zu einem Segen für die Menschen, nicht zu einem Fluch.
    Ich hoffte, dass ich hierbei auf die Hilfe des einzigen Menschen zählen konnte, der es geschafft hatte, mich aus dem Reich der Toten zurückzuholen.
    Gedankenverloren, den
Chronos
unter dem Arm, war ich die Möhringer Landstraße entlanggeschlendert. Plötzlich wurde mir jedoch bewusst, dass ich vor einem GameStop stand und die grellbunten Auslagen musterte. Ich hatte mir nie etwas aus dieser für meinen Geschmack allzu stumpfsinnigen Art der Freizeitgestaltung gemacht und vermochte mir nicht zu erklären, was für ein seltsamer Impuls mich in diesem Moment dazu bewog, die Tür zu öffnen.
    Wärme strömte mir aus dem Inneren des kleinen Lädchens entgegen, und die Verkäuferin lächelte mich freundlich an. Ich machte einen Rundgang durch die Regale, nahm einige Pappschachteln in die Hand und stellte sie wieder an ihren Platz zurück. Das meiste waren amerikanische Ego-Shooter oder Online-Taktik-Shooter wie Counter-Strike, die in ihrer entschärften Form auf den europäischen Markt drängten. Sonst gab es nur langweiligen Kinderkram. Erschaudernd über so viel geballte Phantasielosigkeit wandte ich mich wieder dem Ausgang zu, als mein Blick plötzlich an einem Karton hängenblieb, dessen grafische Aufmachung immerhin originell war und mich ansprach. Es war zweifellos auch ein „Killerspiel“, es hieß Partisan III, und der Publisher war ein lokaler Anbieter namens Avaleet. Ich weiß nicht mehr, welcher Gedanke mich dazu bewog, die Schachtel zur Kasse zu tragen und zu bezahlen. Vielleicht der, dass ich in Zukunft viel Zeit für diese Dinge haben würde, oder auch der, dass ich mir über kurz oder lang ein neues Tätigkeitsfeld suchen musste. Vielleicht war es auch einfach nur Neugier. Gut gelaunt verließ ich mit meinem neuen Spielzeug den Laden und setzte meinen Weg in Richtung Wallgraben fort.
    Wenige Minuten später war ich am Ziel meiner langen Reise angekommen. Einladend schien das Licht aus den Fenstern des kleinen, senfgrün gestrichenen Häuschens auf die Straße. Ich öffnete das Gartentor,
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