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Der Komet

Der Komet

Titel: Der Komet
Autoren: Hannes Stein
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Nest von Mitessern (»Wimmerln«)? Alexej wandte den Blick schnell von seinem Spiegelbild ab, er schämte sich. – Aber war er denn wirklich hässlich? Das ist gar nicht so einfach zu entscheiden. Denn wir sehen uns alle nicht so, wie wir wirklich sind; kein Mensch hat je im Spiegel das eigene Gesicht erblickt. Klar ist nur, dass derjenige, der glaubt, er sei hässlich, sich meistens auch so benimmt, als sei er es; und eben dadurch wird er dann »wirklich« hässlich – was in diesem Fall heißt: in seiner Wirkung auf andere. Ob er hinter der Fassade, wenn man von seiner Wirkung absieht, ebenfalls »schiech« ist; ob sich in ihm latent ein attraktiver Mensch verbirgt, der nur leider nicht zur Erscheinung kommt – das ist eine spitzfindige philosophische Frage.
    Als Alexej von Repin, der sich mittlerweile auch noch das Gesicht gewaschen hatte, aus dem Badezimmer in den Salon zurückkehrte, war der Skandal schon im allerschönsten Schwung. An die Lesung hatte sich, wie das zum Leidwesen der Dichter so üblich ist, eine Diskussionsrunde angeschlossen. Am Anfang waren wohl die üblichen Artigkeiten gesagt worden, aber dann hatte AndréMalek, der Philosoph mit der grauen Mähne, sich zu Wort gemeldet. »Madame«, sagte er, »Ihre Gedichte sind, mit Verlaub, merde. « Verteidiger der Dichterin waren ihm daraufhin empört über sein loses Maul gefahren (»impertinenter Lackel«, »Ungustl« usw.), aber Malek war von seinem Sitz aufgesprungen und hatte sie mit Stentorstimme alle niedergebrüllt. Die Verse der Ana Dalmatin seien überholt, nicht auf der Höhe der Zeit, kurz und schlecht: reaktionär! Eine Lyrik, die den Anschluss an die Moderne verpasst habe, verdiene im Grunde gar nicht, dass man sie Lyrik nenne. Diese Gedichte seien affirmativ (was immer das nun wieder bedeuten mochte)! Verse über »Frühling, Sommer, Herbst und Winter« – hier verzog der Philosoph die Miene, man sah ihm an, dass er am liebsten ausgespuckt hätte. Diese Dichterin sei mit den herrschenden Verhältnissen offenbar höchst einverstanden. Das sei ihr gutes Recht in ihrem stillen Kämmerlein, aber als Leser wünsche man, von diesem »affirmativen« (hier war die Vokabel schon wieder) Gewäsch verschont zu werden! Sie solle sich schämen, dass sie als Tochter eines unterdrückten Volkes in diesem verrotteten Kaiserreich nichts anderes zur Welt zu sagen wisse als: ja und amen.
    Schwer atmend ließ sich der Philosoph auf seinen Stuhl plumpsen. Und nun entstand – nachdem Ana Dalmatin die Schimpfkanonade mit trotzig verschränkten Armen, aber gesenkten Hauptes hatte über sich ergehen lassen – eine jener Pausen, in denen still der Engel der Peinlichkeit durchs Zimmer geht. Und in diese Pause hinein ergriff Alexej von Repin das Wort. Oder das Wort ergriff ihn, so genau konnte das hinterher keiner mehr sagen. Von seiner Ecke an der Wand her, an der er mit überkreuzten Beinen lehnte, sagte der junge Mann eine winzige Spur zu laut und ohne irgendjemanden dabei anzuschauen: »Also, mir haben die Gedichte von dem Fräulein ganz gutgefallen.« Vielleicht lag es an dem altmodischen »Fräulein«: jedenfalls war es danach mit einem Mal so, als sei ein böser Bann gebrochen. Die Gäste der Barbara Gottlieb lachten; die Dichterin wehrte sich anfangs gegen den Lachreiz, fing dann aber auch an zu glucksen; sogar der finstere Philosoph André Malek brach in Gelächter aus. Am lautesten aber war das Lachen der schönen Gastgeberin in ihrem rot-weißen Dirndl, das ihr, wie schon angemerkt, ausgezeichnet stand. Dieses Lachen klang ganz hell, es lag nichts Finsteres, nichts Höhnisches darin. Als sie sich alle wieder beruhigt hatten, erklärte Barbara Gottlieb, das sei doch ein gutes Schlusswort, und sie wünsche den Gästen noch einen angenehmen Heimweg.
    Bei der Verabschiedung geschah es dann, dass sie Alexej von Repin sehr fest an sich drückte. »Sie waren großartig, mein Freund«, sagte sie ihm ins Ohr, wobei sie das erste R fein auf der Zungenspitze rollte; er spürte, wie wunderbar weich ihre Brüste unter dem Stoff lagen; mit seinen Händen hielt er beinahe gegen seinen Willen ihre Taille umfasst, der Geruch ihrer Haut stieg ihm von ihrer Halsmulde her in die Nase; und als sie ihn, wie vorhin schon Thomas, auf die Wangen küsste, da wendete sie einen Augenblick zu früh ihren Kopf, und seine Lippen streiften kurz und sanft – niemand außer ihnen beiden hatte es bemerkt – ihren Mund. »Kommen Sie bald wieder, Alexej.« Die körperliche Empfindung
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