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Der Komet

Der Komet

Titel: Der Komet
Autoren: Hannes Stein
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dieses Beinahekusses begleitete ihn noch, als er benebelt in dem altertümlichen Aufzug nach unten fuhr (zeitaufwärts, zeitabwärts?). Sie begleitete ihn auch auf dem langen und einsamen Weg in seine Studentenbude, sie begleitete ihn noch bis in den unruhigen, von tollen Träumen zerrissenen Schlaf hinein. »Die Ehre, die Ehre«, sagte das Männlein in der Livree, als sie im Parterre angekommen waren, in Alexejs Ohren klang es wie Spott. Denn ihm war fürchterlich klar, dass ervon nun an ehrlos war: Er hatte sich Hals über Kopf verliebt. Er, der Hässliche, der Schüchterne, in die schönste Frau von Wien; in eine Dame, die einen Levinsohn im Salon hängen hatte. Eine Ehefrau zudem, deren Gatte ganz gewiss bei Hof ein- und ausging. Eine Ehefrau mit zwei kleinen Töchtern. Es war eine Katastrophe. Es hätte nie geschehen dürfen; es war geschehen. Alexej wusste, was ihm blühte: schlaflose Nächte, zähneknirschender Selbsthass. Eine Katastrophe, eine Katastrophe. Die Liebe war eine Katastrophe.
    Hätte er in diesem Augenblick gewusst, dass in ein paar Monaten die Welt untergehen sollte, es wäre Alexej im Vergleich wie das mindere Unglück vorgekommen.

II.
Dudus Mondfahrt
    David Gottlieb, den seine Freunde gern zärtlich »Dudu« riefen, platzte vor Vorfreude schier aus den Nähten und fühlte sich deswegen schuldig. Warum er sich schuldig fühlte? Weil seine Vorfreude wenigstens durch einen Tropfen der Trauer hätte getrübt sein müssen: noch war ja gar nicht abzusehen, ob er seine Gattin und ihre beiden Töchter binnen Wochen oder erst in Monaten wiedersehen würde. Dudu Gottlieb war aber überhaupt nicht traurig. Ihm fiel vielmehr ein Stein vom Herzen, als ihn das Telegramm mit der kryptischen Nachricht – seine Anwesenheit auf dem Mond sei »dringend stopp sehr dringend erforderlich« – aus dem Kreise seiner Lieben zu Hause fortriss. Nicht zu leugnen: Seine Ehe war im vergangenen Jahr mit sanft-bösem Knirschen auf eine Sandbank gelaufen. Man konnte nicht sagen, dass er häufig mit Barbara stritt; vielleicht stritten sie sogar zu wenig miteinander. Aber der Nebel der Gewöhnung hatte sich grau auf seinen Alltag und klamm um sein Herz gelegt. Womöglich war ja auch, so suchte er sich zu beruhigen, das Alter schuld: Er hatte die 50 gerade eben überschritten. Jedenfalls hatte er Barbara nun schon lange nicht mehr (im biblischen Sinn dieses Wortes) erkannt. Es lag nicht daran, dass Dudu ihre Schönheit nicht mehr wahrgenommen hätte; im Grunde fand er seine Gattin sogar attraktiver denn je. Aber ihre Schönheit reizte ihn eben leider überhaupt nicht mehr.
    Nach den Vorschriften des Talmud war Dudu Gottlieb die Pflicht auferlegt, seine Frau entweder erotisch zufriedenzustellen oder ihr materiellen Ersatz zu leisten; so hatte er Barbara mit Halsketten und Ohrringen, mitGold und Brillanten wortlos um Verzeihung gebeten … lieber hätte er seinen Ehekontrakt (einst hatte er ihn an einem sonnig-kalten Frühlingstag besiegelt, indem er ein Glas unter der Ferse zermalmte) auf die traditionelle Art erfüllt. Aber stand es denn in seiner Macht?
    Nun musste Dudu Gottlieb also auf den Mond, und die Vorfreude wirkte auf ihn wie ein Gas, das sanfte Rauschzustände hervorruft. Barbara hatte ihm am Vorabend geholfen, seine Koffer zu packen; genauer gesagt war es so gewesen: sie hatte die Koffer systematisch mit allerhand Nützlichem gefüllt, er hatte immer mal wieder versucht, ein Buch unter die Kleidungsstücke zu schmuggeln, und Barbara hatte ihm die Bücher – »du kannst nicht deine halbe Bibliothek mitnehmen, Dudu« – einzeln wieder ausgeredet. Er hatte sich den Wecker auf halb sechs gestellt und war neben ihr tief in traumlosen Schlaf gefallen (Reisefieber kannte Dudu Gottlieb zum Glück nicht); morgens war er aus dem Bett gerollt, hatte seine Frau, die sich schlaftrunken räkelte, kurz auf den Mund geküsst, Gebetsriemen angelegt und eine halbe Stunde lang Schách’riss, das Morgengebet, verrichtet. Nach einer kräftigen Dusche (halb heiß, halb eiskalt) hatte er sich angekleidet wie jeden Tag – schwarz gestreifter Anzug, rote Seidenkrawatte, Samtkappe; an den Seiten seiner Hose hingen die Schaufäden des kleinen Gebetmantels herunter, den er als Unterhemd trug. Dudu Gottlieb musterte sich kritisch im Spiegel (demselben Spiegel, in den ein paar Tage zuvor Alexej von Repin geblickt hatte). Er sah sein blasses Gesicht, sah verschwiemelte Züge, seinen kurz geschorenen Bart, der an den Ecken schon grau wurde,
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